Engel sterben
Traummann führte durch Freds Bett, so dachten die Mädels jedenfalls, und Fred hütete sich davor, sie eines Besseren zu belehren.
Natürlich schaffte es keine von ihnen jemals in Freds Reportagen. Zu genau wusste er, was von ihm erwartet wurde. Niemand konnte so sicher wie Fred It-People von Would-Like-People und Has-Beens unterscheiden. Nur die wirklich bedeutenden Menschen wurden erwähnt. Und schon das war eine Ehre. Fred tupfte ausgewählte Anekdoten über diese Personen sorgsam in seine ausufernden Schilderungen der kargen Sylter Landschaft, er brachte die Helden seiner Anekdoten zum Strahlen, machte sie zu Persönlichkeiten, ließ sie wirken wie knallrote Mohnblumen auf einem Teppich aus beigegelbem Korn. Oder Sand. Teurem Sand. Sylter Sand.
Fred war der Meister der Stimmungsschilderung. Seine Sommer-Reportagen waren echte Auflagenhämmer. Durch ihn erschloss sich der herbe Charme der Insel Millionen von Daheimgebliebenen. Fred war es, der ihnen das Möwenballett vor endlosem Horizont zeigte. Die raue Stimme der Nordsee im Sturm vorflüsterte. Und wenn sie das alles verinnerlicht hatten, bebilderte er für seine Leser die fliegenden Tage der Happy Few, indem er den Rhythmus ihrer Partys und Strandausflüge erfahrbar machte. Freds Artikel lasen sich wie Schrift gewordene Jazz-Songs zum Mitschnippen.
Na bitte, denkt Fred jetzt, ich kann es noch. Was wollt ihr Arschlöcher eigentlich? Ich bin immer noch »Die Feder«, der beste unter allen guten Schreibern. Warum wisst ihr das nur nicht mehr, ihr verdammten Säcke da drüben in Hamburg? Und während Fred den Dünenkamm hinunterstolpert, der Wasserkante entgegen, denkt er das, was er an dieser Stelle immer denkt, bei jedem Abendspaziergang, seit Jahren schon.
Es gibt einen Ausweg. Es muss nur die
eine
Story her. Die ganz große Geschichte, die nur von ihm erzählt werden kann. Von dem berühmten Genie mit der Feder, von Fred Hübner, dessen Namen vor dreißig Jahren jedes Kind kannte.
Lautes Geschrei schreckt ihn aus seinen Gedanken. Vom Strand her bewegt sich etwas auf ihn zu. Fred blinzelt ins Licht und erkennt einzelne Punkte, die sich im Näherkommen zu Gestalten formen. Männer mit Kurzarmhemden, die Sandalen in der Hand tragen. Frauen mit Kleidern aus wehender Baumwolle, die nur unzureichend ihre altersweichen Bäuche verbergen. Frauen, die geboren haben, denkt Fred schaudernd, als er die Horde der Kinder in neongrell bedruckten T-Shirts entdeckt, die den Erwachsenen folgt.
In Kampen würde niemand so herumlaufen. Aber hier in List, am nördlichen Inselzipfel, spielt eine andere Musik. Hier gibt es keine Promis, keine aufgebrezelten blondgelockten Sahneschnittchen, die sich verlockend präsentieren, allzeit zum Vernaschtwerden bereit. Hier dominieren die biederen Familienväter mit ihren schwerbrüstigen Ehefrauen. Zum hundertsten Mal verflucht Fred den Umstand, dass er sich keine Bleibe in Kampen leisten kann. Noch nicht einmal für ein winziges Kämmerchen würde seine klamme Barschaft reichen. Der Ort seiner großen Triumphe hat ihn schon vor Jahren verstoßen. Er muss froh sein, dass es ihm überhaupt noch möglich ist, auf der Insel zu leben.
Die winkenden und schreienden Menschen kommen immer näher. Jetzt kann Fred auch ihre Worte verstehen. Besser gesagt das eine Doppelwort, denn es ist stets das gleiche, das sie rufen: »Ann-Kathrin.« »Ann-Kathrin.« »Ann-Kathrin.« In allen Tonlagen, von tief und brummig bis hinauf zum hysterieverdächtigen Kreischen.
Als eine Vorhut aus keuchenden Männern ihn erreicht hat, erfährt Fred den Grund für die Aufregung. Ann-Kathrin ist die Tochter eines der Männer, sie ist sechs Jahre alt und hat hellblondes Haar, das zu Zöpfen geflochten ist. Oder sollte man sagen, zu Zöpfen geflochten war? Denn wie das Haar von Ann-Kathrin im Moment aussieht, kann niemand sagen. Seit zwei Stunden ist das Mädchen spurlos verschwunden. Die Eltern haben in ihrer Verzweiflung alle Urlaubsbekannten zusammengetrommelt, um ein letztes Mal den Strand abzusuchen, bevor sie die Polizei alarmieren werden.
Natürlich fragen die Männer Fred, ob er etwas beobachtet habe und wie lange er schon am Strand sei. Denn vor zwei Stunden sei es gewesen, dass die Familie den für den Urlaub gemieteten Strandkorb verlassen habe, müde und erschöpft von einem heißen Tag mit zu viel Sonne. Ann-Kathrin sei die Jüngste von drei Geschwistern, sie habe getrödelt und sei trotz wiederholter Ermahnungen der Eltern immer weiter zurückgeblieben
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