Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
Menschen gefüllt, die mit verklärten Gesichtern Phillipes Ausführungen lauschten, die aus esoterischem Geschwafel, Pseudophysik auf Hauptschulniveau und ein paar Neudeutungen altchristlicher Mystik bestanden, für die man unter gewöhnlichen Umständen nur ein Kopfschütteln und nicht siebzig Euro Eintrittsgeld übrig gehabt hätte. Sie wollen es und ich muss leben, war Phillipes Antwort auf Schäfers Frage gewesen, warum er es nötig hatte, so einen Humbug zu verzapfen, wo er doch ganz andere Fähigkeiten hätte, um die Menschen ans Licht zu führen. Ohne zu erwähnen, dass er selbst solchen Vorträgen gelauscht hatte, nur um einmal etwas anderes zu empfangen als die Produkte der ewig gleichen Verblödungsmaschinerie aus Medien, Politik, Werbung et cetera. Und erneut war ihrem Zusammentreffen eine Nacht intensiver Gespräche gefolgt: seine Kindheit, Tirol, die Vergiftung durch diesen Scheingott und die selbstgerechten Tugenden, die lähmende Normalität der Abnormalen, oder der Wahnsinn der Normalität, gegen den es sich in ihm aufbäumte, ohne dass er wusste, wer oder was es war, der ihm diesen dauernden psychischen Brechreiz verursachte, gegen den er mit Fäusten, Beschimpfungen und Drogen kämpfte, sogar mit Widerstand gegen die Staatsgewalt, wie in einer der Anzeigen stand, wegen denen sein Vater ihn aus dem Polizeigewahrsam holen musste, Staatsgewalt, was für ein Hohn, diese dickärschigen und dauerfetten Bezirksgendarmen, die aus der Lehre bei ihren übermächtigen Vätern in den Polizeidienst geflohen waren, um ihre eigenen Gewaltfantasien und Ohnmachtsängste an den Outlaws auszulassen, wie er einer gewesen war, ja, außerhalb des Gesetzes, aber zumindest ehrlich, ihr Dreckschweine! Sonst hättet ihr herausgefunden, wer schuld war, dass sich Marlene aufs Gleis gelegt hat! Zu mir, zu mir ist sie gekommen, schrie er nun gegen die Windschutzscheibe, durch die wegen des stärker werdenden Regens immer weniger zu sehen war, in meinem Traum ist sie aufgetaucht, noch in der gleichen Nacht, als sie der Güterzug zerteilt hat: Du rächst mich, Johannes, hat sie gesagt, du rächst mich, an meinem Vater, der schuld ist an allem. Und er hatte einen Tag zugewartet, weil dieser Traum, so real er ihm erschienen, doch auch von halluzinogenen Pilzen genährt worden war, die nicht zum ersten Mal seltsame Assoziationen und Schuldzuweisungen gegen Mitbürger erzeugt hatten, die offensichtlich über jeden Verdacht erhaben waren.
Am Abend nach der Beerdigung, nachdem die Stimme der Selbstmörderin nicht leiser werden wollte, hatte er sich den Vötter Hias geschnappt – einen Klassenkameraden, dem jeder Vorwand willkommen war, um jemandes Kühlerhaube oder Küchenfenster einzuschlagen – und war mit ihm zum Haus von Marlenes Vater geradelt. Als der die Tür öffnete, sagte Schäfer nur: Kommen Sie mit, und er folgte ihm wie unter Hypnose. Zu einem aufgelassenen Bergwerksstollen am Fuß des Hahnenkamms, wo sie den Mann zwangen, die angenagelten Schalbretter vom Eingang zu reißen. Dann gingen sie hinein … und dann … der Vötter Hias schlief bald ein, weil ihm das ermunternde Stimulans einer Schlägerei fehlte und er obendrein fast eine Flasche Glenfiddich aus der familieneigenen Hotelbar getrunken hatte. Schäfer saß Marlenes Vater gegenüber, die abgerissenen Bretter als Bank, und sah ihn stundenlang an. Er wusste nicht, was er von ihm wollte, hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin das alles führen sollte, warum dieser Mann, der zwei Kopf größer und mindestens dreißig Kilo schwerer war, ihn nicht einfach niederschlug und nach Hause fuhr; stattdessen die Stirn in die Hände legte und weinte, beteuerte, dass er das alles nicht gewollt hätte, dass er sie doch geliebt hätte, seine Tochter; und als Schäfer, tatsächlich aus Mitleid, dem heulenden Mann die Hand auf den Unterarm legte, zuckte der zusammen und schrie, als drückte ihm jemand ein Brandeisen auf. Ja, ja, er hatte sich an ihr vergangen, Gott möge ihm vergeben, sein Leben, alles würde er geben, nur um seine Tochter, seine geliebte Marlene zurückzubekommen. Dann war Schäfer eingeschlafen. Zitternd vor Kälte erwacht, von seinem Freund und dem verdammten Vater im Bergwerk zurückgelassen. Zuerst hatte er sich gefürchtet, dann an die modrig riechende Felswand im Stollen gepisst, dann eine Zigarette angezündet, dann den Heimweg angetreten. Am folgenden Tag hatte Marlenes Vater Selbstanzeige erstattet und war zu drei Jahren verurteilt worden. Sechs Monate
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