Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
Zusammenhang stehen? Ist sie ein Konstrukt aus Bergmanns Gehirn, das aus zufälligen Ähnlichkeiten eine eindeutige Übereinstimmung erzwingt und aus ihren blonden bis brünetten Haaren einen roten Faden flicht, der einem sonst zerfallenden Gewebe Halt gibt? Eine umtriebige junge Frau, die sich ihren Lebensunterhalt zwischen Wien und Montreux, zwischen Mountainbike-Touren und Aufzug-Wartungen verdient und dabei einmal zu viel – oder zu wenig – die Aufmerksamkeit von Chefinspektor Bergmann erregte? Oder – wenn es denn schon einen Trupp verrückter Männer gab, die ihren verworrenen Geisteszustand und ihre blinden Aggressionen dem Eintauchen der Erzengel in ihre Seelen zuschrieben – konnte es nicht auch ein weibliches Pendant zu diesen geben: eine geheime Amazonenarmee, die sich dem wahnwitzigen Zerstörungsdrang von Plier und seinen Kampfgefährten entgegenstellte; wahre Schutzengel, die so gut wie unbemerkt ihr hilfreiches Werk vollbrachten, auch wenn es dabei um Mord und Totschlag ging. Wer war denn stets zu Hilfe gewesen, wenn ein Totpunkt erreicht war? Die Untersuchungsrichterin aus Annecy, die Bergmann geholfen hatte, Marsants wahre Identität zu entschleiern; die Schamanin und Familienaufstellerin mit ihren Botschaften aus dem Zwischenreich; Selma, die ihn zu seinen Eltern und Schäfer in die Schweiz begleitet – und möglicherweise auch den Finger am Abzug des Sturmgewehrs gehabt hatte; dann die junge Frau, die Schäfer zurück nach Montreux gebracht hatte; dann die alte Ziegenbäuerin, die Bergmann an der Landstraße aufgeklaubt hatte. Oder. Oder? Also, wie entscheidet sich Bergmann?
Er wählt abermals ihre Nummer. Natürlich: nicht verfügbar. Sie hat ihm ja gesagt, dass sie demnächst nach Südostasien verreisen würde. Wie sich entscheiden? Bergmann sagt: Tut mir leid, das ist mir zu hoch, ich höre hier auf. Mit dem Hemdsärmel wischt er sich den Schweiß aus dem Gesicht, steigt die Treppen der Jubiläumswarte hinab, setzt sich ins Auto und fährt auf direktem Weg ins Kommissariat.
62.
Ein paar Jahrtausende zuvor hätten sie sich ungehemmt auf ihn gestürzt; geifernd, wie sie die letzten Tage und Stunden in ihren Büros ausgeharrt hatten oder knurrend durch die Gänge geschlichen waren, wissensbrünstig, nachdem die Nachricht von Schäfers Rückkehr zu ihnen gedrungen war wie das Vollmondlicht durch die Nachtwolken zu den Wölfen. Und jetzt betrat er das Revier: Chefinspektor Bergmann, mittlerweile Alphatier, zwischen den Lefzen die Beute, die Information, nach der sie monatelang gehungert hatten. Würde es ihm gelingen, sie so lange in Schach zu halten, bis er zu Rudelführer Kamp durchgedrungen war?
Zurück, schäbige Meute, zurück! Nichts dergleichen geschah. Zwei Kollegen von der Sitte grüßten ihn beiläufig im Eingangsbereich, irgendwo läutete ein frustriertes Telefon vor sich hin, auf dem Gang stand eine Beamtin und starrte gedankenverloren auf die Blätter, die der Drucker auswarf. Was passierte hier? Würde jetzt gleich Kovacs auf ihn zutreten, einen guten Tag wünschen und ihn darüber aufklären, dass er die Ereignisse der letzten Monate nur geträumt hatte? Schäfer im Büro, missmutig einen Gummiball an die Wand werfend, Bergmann!, wo waren Sie?!, was ist mit dem Ermittlungsbericht, den ich heute Morgen auf meinem Schreibtisch haben wollte? Langsam drückt Bergmann die Tür auf – sieht den menschenleeren Raum, den Schreibtisch, wie er ihn verlassen hat, geht zum Waschbecken, wäscht sich das Gesicht, schaltet die Kaffeemaschine ein und lässt sich in seinen Sessel fallen. Jetzt läutet das Telefon. Kamp. In mein Büro.
„Wissen Sie, was das ist?“, fragt der Oberst und hält eine durchsichtige Flasche hoch, auf die jemand mit einem Faserschreiber 1951 geschrieben hat.
„Alkohol?“, antwortet Bergmann, der nicht den Füllstand der Flasche sehen muss, um zu erkennen, dass Kamp betrunken ist.
„Ja … so kann man es nennen … Calvados … den habe ich von einem von der Sûreté … Paris, Quais des Orfèvres … mit dem habe ich damals … achtundsiebzig oder neunundsiebzig war das … den hat er mir geschenkt … von seinem Geburtsjahr … den machen wir jetzt leer!“
Bergmann setzt sich und sieht zu, wie der Oberst ihm einen Cognacschwenker zur Hälfte anfüllt und über den Tisch schiebt.
„Für einen besonderen Anlass, habe ich mir immer gesagt … den behalte ich für einen besonderen Anlass auf … das ist ein Fehler, wissen Sie, Bergmann! … Da behält man
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