Engelherz - Band 1-3
verloren. Um sie herum war nichts, außer Dunkelheit. Ihre Rufe verhallten in der Finsternis und sie war allein. Ohne Gefährten und ohne Liebe. Und wenn Schemen – lebende Wesen – erschienen, waren sie wie blinde Flecken in einem ohnmächtigen Universum, welches nicht hörte und nicht sah.
Nie war ich froher, dass es endlich hell wurde und ich die Nachtgespinste abschütteln konnte. – Nie zuvor hatte ich geträumt und hoffte, dass diese eine Erfahrung auch meine letzte bleiben würde.
Dankbar registrierte ich die Wärme und die Helligkeit der Welt und öffnete erleichtert die Tür, um frische Luft und Vogelgezwitscher einzulassen.
Mein erster Blick fiel auf Evas Grab. Bunte Blumen säumten den kleinen Erdhügel. Wie konnte das sein? „Sind sie über Nacht gewachsen?“
Ungläubig machte ich einen Schritt aus der Tür heraus, dann sah ich Seth unter einem Baum sitzen. Er starrte vor sich hin und schien mich nicht zu bemerken. Seine Hände waren lehmig.
Barfuss ging ich über die noch taunasse Wiese und stupste ihn leicht an.
„ Du hast im Schlaf geschrieen!“, flüsterte er, doch er ließ kein Auge vom Grab seiner Mutter. „Ich konnte sie doch nicht einfach unter nackter Erde liegen lassen!“
„ Das hast du gut gemacht!“, zwang ich mich zu sagen.
Mit roten Tränenunterlaufenen Augen blickte er zu mir hoch. „Wieso hast du es getan?“
Ich begriff nicht sofort, was er meinte. Erst nach einigen Sekunden glaubte meine innere Stimme: „Er meint den Apfel und den Sündenfall!“
Was sollte ich ihm dazu sagen? „Sag ihm doch, dass es seine Mutter war!“ – „Das würde er nie glauben!“ – „Er würde alles glauben!“ – „Dann sag ihm die Wahrheit!“ – „Er ist noch so jung! Kaum älter als du!“
Mein stummes Zwiegespräch zwischen meinem Gewissen und meiner patzigen inneren Stimme verstummte und beide erwarteten eine Entscheidung.
Ich zuckte mit den Schultern, weil ich nicht wusste, was ich antworten soll und hoffte, dass er nicht noch einmal fragte.
Er wischte sich mit seinem Hemdärmel über die Augen. „Vater will dich sprechen!“, schniefte er.
„ Eva ist kaum kalt!“ , wütete mein Gewissen. Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
Als Seth meine abwehrende Haltung bemerkte, fügte er hinzu: „Ich glaube, er stirbt!“
Ungläubig starrte ich den Jungen vor mir an und fühlte einen schweren Kloß im Hals. „Das kann nicht sein!“, meinte ich mehr zu mir selbst, als zu Seth.
„ Geh zu ihm!“, bat der Junge.
Benommen drehte ich mich um und ging zur Menschensiedlung. Bisher hatte ich die Siedlung nur von weitem beobachtet. Nie war ich in ihr gewesen, denn ich wäre nicht erwünscht gewesen.
Niemand war da. Nirgendwo regten sich Menschen. Sie waren alle gegangen. „Hat er sie fortgeschickt? Oder sind sie geflohen? Vor mir geflohen?“
Trotzdem wusste ich, in welches Haus ich gehen musste. Oft genug hatte ich Eva hinein- oder hinausgehen sehen.
Als ich über die Schwelle trat, jagte ein Schauer über meinen Rücken. „Das kann nicht sein!“
Ein alter Mann lag in dem einzigen Raum auf einem Lager und sah mit verschleierten Augen zu mir. „Wie lange war es her?“
Unverkennbar, es war Adam. Doch wie alt, wie schlimm sah er aus?!
Ich begriff mit einem Mal, dass ich ihn schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatte, dass er sich hier in diesen Raum zurückgezogen hatte, damit die anderen das Ausmaß seines Alters nicht begriffen.
„ Du hättest es wissen müssen, Eva ist doch auch eine alte Frau gewesen.“ – „Ja, aber es ist dir nie aufgefallen, weil du sie alle paar Tage gesehen hast!“
Adam streckte mir die Hand entgegen.
Langsam ging ich näher und versuchte mir unter dem Alter den schönen, jungen Mann vorzustellen, mit dem ich hatte leben sollen.
Ich brach in haltloses Schluchzen aus, als er meine Hand nahm und ich mich neben ihn setzte.
„ Es tut mir leid! Es tut mir so leid!“, stammelte ich unter Tränen und meinte einfach alles.
„ Es ist in Ordnung, Lilith!“, flüsterte er und seine Stimme klang genauso alt, wie er aussah. „Kleine Lilith!“ Mit seiner zitternden Hand strich er mir eine Träne von der Wange.
„ Ich habe alles falsch gemacht!“, flüsterte ich. Ich konnte kaum ertragen, ihn so vor mir zu sehen. So alleine, so hilflos.
„ Nein! Du hast alles richtig gemacht! Ich hätte es nicht anders gewollt!“ Er schwieg, um neue Kräfte zu sammeln. „Ich habe Kinder bekommen und Enkel!“ Er schenkte mir ein
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