Engelherz - Band 1-3
seinem Bruder hinterher laufen soll?“ Ich schüttelte den Kopf, wie um mir selber eine Antwort zu geben.
Es fiel mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie in Trance sah ich von Außen zu, wie Kain und ich Eva von dem Baum lösten und auf den Boden legten.
Unschlüssig, was wir weiter machen sollten, standen wir vor ihr und starrten auf den Leichnam. Kein Engel war da, kein Jahve, niemand, den ich fragen konnte.
Ich spürte, wie ich meine Fingernägel in meine Handflächen bohrte, um mich zurück in meinen Körper zu zwingen, um nachdenken zu können.
„ Begrabt sie!“
Erschrocken fuhr ich herum. Seth stand hinter mir. In seinen Augen flackerte dieselbe Wut, wie zuvor in Kains Augen.
„ Sie hatte nicht das Recht, sich das Leben zu nehmen!“, flüsterte er und in seiner Stimme schwang Abscheu und Hass mit. „Niemand hat das Recht, sich selbst zu töten!“
„ Es war ihr Leben!“, wandte ich ein.
Seth schüttelte den Kopf und machte eine abwehrende Bewegung, als Kain etwas sagen wollte. „Du schweig! Du bist ein Mörder!“
Er trat einen Schritt zurück und atmete tief durch. „So höret denn alle, was wir beschlossen haben!
Kain, du wirst verbannt aus unserer Gruppe. Geh irgendwohin, wo dich niemand kennt, wo niemand weiß, was du getan hast!“
Seth drehte sich zu mir um. „Ob sie mutig genug waren, auch über dich zu urteilen?“ „Begrab sie! So, dass niemand ihr Grab findet! Niemand soll um sie trauern, denn sie hat sich selbst umgebracht! Aber das Leben ist ein Geschenk und keinem Menschen sei es ab heute gestattet, sich selber zu töten!“
Mit diesen Worten ging er, ohne seiner Mutter noch einen Blick oder eine Träne zu schenken.
Sofort begann meine innere Stimme ein Streitgespräch mit meinem Verstand und meinem Gewissen: „So Hartherzig!“ – „Nein! Er hat Angst! Er hat begriffen, dass auch er eines Tages sterben muss!“ – „Es obliegt ihm nicht, über Selbstmord zu urteilen! Und keinem anderen Menschen!“ –„ Was ist mit Adam? Wird er damit fertig?“
Ich zitterte, doch ich war zu traurig und zu entsetzt, um noch weinen zu können. „Das hat Eva nicht verdient! Sie ist doch kein schlechterer Mensch geworden, nur weil sie sich umgebracht hat!“
Doch das stimmte nicht ganz. Ich verstand den Vorwurf, den ihre Kinder ihr machten. Eva war endgültig geflohen, weil sie mit sich selbst und der Welt, mit der Lage, in die sie sich selber hineinmanövriert hatte, nicht mehr klarkam. Es war feige und ließ den anderen Menschen keine Chance mehr, ihr zu helfen oder sich zu entschuldigen.
Ich begriff, dass es schwerer war, sein Leben zu Ende zu leben, als das Heil im unbekannten, unbegreiflichen Tod zu suchen.
„ Und für mich wird es nicht einmal das geben!“ , dachte ich gleichzeitig dankbar und verzweifelt.
Ohne ein Wort zu wechseln, trugen Kain und ich Eva zu meiner Hütte. „So dünn und so ausgemergelt.“ Ihre tote Hülle schien so gut wie gar nichts in meinen Armen zu wiegen. Ich betrachtete sie, wie ich sie als Lebende nie betrachtet hatte. In ihr Gesicht hatten sich tiefe Falten gefressen und Altersflecken verunzierten die ehemals so schöne, stolze Gestalt.
Die Zeit selber schien sie gebrochen zu haben.
„ So wirst du nie aussehen.“ Ich zitterte.
Ohne dass ich es bemerkt hatte, war Eva zu einer alten Frau geworden, einem Schatten ihres früheren Selbst, allein und verzweifelt. „Du hast sie allein gelassen.“
Verzweifelt klammerte ich mich an sie und wünschte ich könnte alles ungeschehen machen: Ihren Tod, den Sündenfall, mein Leben, einfach Alles.
Sie war der einzige Mensch, der wusste, dass der Sündenfall nicht meine Schuld gewesen ist, der einzige Mensch, der mit mir sprach und der mich so liebte, wie ich war.
„ Meine einzige, ewige Freundin. Ich werde dich nie vergessen!“, versprach ich ihr stumm, als ich sie losließ und in das tiefe Loch gleiten ließ, welches Kain ausgehoben hatte.
Er bedeckte sie mit Erde und ging, ohne sich von mir zu verabschieden und ohne noch einmal zurückzublicken.
„ Du hast sie hier begraben?“, sanft zog mich Samiel von hinten in seine Arme, kaum dass Kain außer Sichtweite war. Trotzdem enthielt seine Feststellung eine Anklage, so dass ich nicht antwortete.
Samiel seufzte. „Es war falsch, was sie getan hat!“
„ Es obliegt weder dir, noch mir, das zu beurteilen!“, tadelte ich sanft und kämpfte meine Trauer nieder.
„ Aber ich kann es beurteilen!“, maßte sich Samiel an, erklärte aber
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