Engelsberg
Menschenmenge.
Das Unerhörteste dieser wirklichen Begebenheit war nicht die von jenen Melodien ausgelöste Raserei, sondern dass diese Bezauberung anscheinend kein Ende hatte. Schon seit über fünf Stunden tanzte man wie von Sinnen, und niemand ließ Anzeichen von Müdigkeit erkennen. Nur dass ein paar hundertjährige Negerinnen im Gewühl der Tanzenden tot umfielen. Noch in dem Augenblick, da sie ihr Leben aushauchten, schwangen sie ein letztes Mal die Hüfte, womit sie sagen wollten, dass sie vollkommen glücklich starben, weshalb die Leichname unter donnerndem Applaus fortgetragen wurden, ohne dass der Ball deshalb unterbrochen worden wäre.
Die von Pimienta mitgerissenen Musiker selbst mischten sich, während sie geigten, trommelten und trompeteten, unter die Tanzenden und drehten sich in solch atemberaubendem Tempo, dass sie bis unter das Dach des hohen Stadthauses emporgetragen wurden, wo dann manche von ihnen mit dem Kopf nach unten am Firstbalken hingen, weiter musizierend und die Hüften schwingend, rasend wie Fledermäuse, die besessen waren vom Gott der Jiribilla.*
Einzig José Dolores Pimienta blieb, in seinen Lederschnürstiefeln, der Leinenhose und der schwarzen Jacke von eindrucksvoller Gestalt, auf der Bühne stehen und blies diese lärmende, doch zu Herzen gehende Musik.
* Auch La Giraldilla oder La Habana genannte Bronzefigur, erschaffen 1631 als Wetterfahne für das Castillo de la Real Fuerza an der Hafeneinfahrt von Havanna. (Anmerkung des Übersetzers)
Kapitel 10 Nemesia Pimienta
Wie es aussah, war ihre Aufgabe nicht zu leben, sondern zu vergehen, zu dienen. Sie war nicht geboren, um herauszuragen, sondern dazu, im Schatten zu bleiben, wie jene lichtlosen, dunstigen Gestalten auf den großen Gemälden, die namenlos hinter den Hauptfiguren verschwimmen und nur dazu da sind, Silhouette zu sein, um einen Kontrast, einen Unterschied zwischen dem Wichtigen und dem Ganzen herzustellen.
Wen kümmerten (außer sie selbst) ihre enttäuschte Liebe, ihre unerfüllten Sehnsüchte, ihre Grillen und Ängste, die niemand zu stillen suchte? Cecilia tanzte, und alle Welt applaudierte ihr und beneidete sie. Cecilia lachte, und alle wollten wissen, worüber, um mitzulachen. Cecilia ärgerte sich oder war traurig, und alle machten angesichts der Verstimmung der schönen Mulattin ein düsteres, sorgenvolles Gesicht. Aber wer schon würde bei ihr, Nemesia Pimienta, deren Figur und Gesicht gewöhnlich, deren Haar krauser und deren Hautfarbe dunkler war als Cecilias, einen Gedanken auf ihre Traurigkeit oder (fast unmögliche) Fröhlichkeit verschwenden?
Wenn sie aus der Kutsche stiegen (Nemesia wie ein Schatten hinter Cecilia her), wem reckten sich da die vielen Arme entgegen? Der gertenschlanken Hellhäutigen doch! Wem galten all die Komplimente? Der Allerschönsten doch!
Es war nämlich höchst zweifelhaft, ob Nemesia Pimienta, wie der Autor des Romans vielleicht aus Mitleid oder wegen der Erzählkonventionen hartnäckig immer wieder betont, überhaupt eine schöne Frau war. Es stimmte absolut nicht. Sie war klein (»hutzlich«, wie die anderen Schwarzen in ihrem Haus sagten) und unscheinbar, besaß nicht einmal die schöne Stimme der Valdés, viel weniger noch ihre Art, zu gehen und zu lachen, und schon gar nicht ihre verführerischen Augen.
Und dennoch schlug in diesem winzigen Körper ein großes Herz und war ihr Begehren noch viel größer und sinnlicher, eben weil es unbefriedigt blieb, als – wie sie glaubte – die Leidenschaft Cecilias; und ihr Bedürfnis nach Liebe war folglich wilder und gieriger als das der anderen jungen Frauen, die alles – oder fast alles – schon hatten oder haben konnten. Und obwohl Nemesias Verlangen weniger maßlos war als das Cecilias, war es darum nicht leichter zu erfüllen.
Denn Nemesia Pimienta erstrebte nicht, wie Cecilia, Leonardo Gamboa zu heiraten, sie wollte nicht einmal seine offizielle Geliebte sein, sondern lediglich eine flüchtige Liebelei mit ihm, die für einen Augenblick alle Leidenschaft stillen könnte. Mit was für einem Blick sie das schöne Mannsbild verfolgte! Jeder Schritt, den er tat, jede Handbewegung wühlte in ihr die Verzweiflung und Begierde auf. Zwischenträgerin, Botengängerin, Aschenputtel zwischen Cecilia und Leonardo, in all das verwandelte sich Nemesia. Jede Erniedrigung nahm sie hin, und sie würde noch mehr hinnehmen, nur um den jungen Gamboa zu sehen. Vielleicht, dachte sie, würde sie sogar seine Hand berühren können.
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