Engelsberg
Doch er, gleichgültig, beachtete sie nicht einmal, ließ nicht erkennen, ob er sie überhaupt wahrgenommen hatte.
Überzeugt dann (wenn auch immer nur für Momente), dass Leonardo Gamboa sie nie würde haben wollen, träumte sie von anderen Männern, die wie ein Ersatz für ihre große Liebe waren, und sie versuchte, den Traum um jeden Preis Wirklichkeit werden zu lassen. Um Mitternacht irrte sie an der Stadtmauer entlang, ging vor die Tore der Stadt, lief bis hin nach Manglar und sogar zu den Sklavenbaracken. Ein Mann, ein junger Mann, weiß oder braun, sogar schwarz, Hauptsache, er war schön. Ein warmer, liebender Körper, ein Körper, der sie an sich presste, sie tröstete und (wenn auch nur kurz) die Glut ihres Körpers löschte. Ein Körper, der sie einen Augenblick lang liebkoste, sie schützte, sich in ihren Körper versenkte und ihm Erfüllung und Ruhe schenkte … Doch nichts von allem passierte, und Nemesia Pimienta, klein, dunkel, sich vor Sehnsucht verzehrend, kehrte in die Wohnung zurück, wo ihr vermeintlicher Bruder, José Dolores, schon schlief.
Seinem Atem lauschend, näherte sie sich langsam dem Bett. Wenn ihr Bruder, ihr schöner Bruder, der so verschieden war von ihr, sie doch nicht nur wie eine Schwester liebte … José Dolores, José Dolores, er war jetzt der Mann ihrer Träume. Einmal mehr küsste Nemesia Pimienta den jungen Mann, der weiterschlief. »Cecilia, Cecilia«, sprach José Dolores manchmal im Traum und umarmte unbewusst Nemesia. Ja … antwortete leise Nemesia und ging zu ihrem Bett.
Ein Mann, ein Mann. Braun, schwarz, gelb, weiß, bronzen. Ein Mann, um ihm zu dienen und ihn zu bewundern, um auf ihn zu warten und sich ihm hinzugeben. Ein Liebhaber, ein Reisender, ein Unbekannter, ein entflohener Sklave, ein Flüchtling, der in einer Regennacht bei ihr Unterschlupf sucht. Ein Verbrecher, ein Mörder … Und einmal mehr besserte Nemesia Pimienta voll Andacht José Dolores’ Hosen aus, machte Meister Uribe schöne Augen mitten in seiner Schneiderwerkstatt (jetzt war er es, war er der Mann, den sie liebte). Aufreizend gekleidet, spazierte sie durch Mercedes Alayas Salon, mit ihrem Blick einen entgegenkommenden Blick suchend, ja fordernd, doch je mehr sie sich mühte aufzufallen, aufzureizen, umso größer war die Gleichgültigkeit, mit der ihr begegnet wurde – aus dieser so menschlichen Eigenart heraus, gerade das zu verweigern, worum wir angefleht werden, und zu begehren, wo uns nur Verachtung erwartet. Ein Körper, ein mitverschworener, einsamer Körper, um ihre Einsamkeit zu lindern, das und nichts anderes war für sie die Liebe, doch eben darum fand sie sie nicht.
Noch provozierender gekleidet, verließ sie um Mitternacht die Wohnung oder ein Tanzvergnügen und überraschte und belagerte im Callejón de San Juan de Dios den Mulatten Polanco (jetzt war er es, war dieser Mulatte der Mann, den sie liebte). Sie schlug ihren weiten Rock hoch und bot sich nackt dem Neger Tondá dar (jetzt war er es, war er der Mann, den sie anbetete). Sie lief unter dem immer riesiger und bedrohlicher werdenden Vollmond, kniete nieder vor dem Kommissar Cantalapiedra höchstpersönlich, der die Steintreppe vom Engelsberg herunterkam, erbat, forderte, dass er sie gleich dort auf dem Straßenpflaster besäße. Jetzt war er es, war er und kein anderer der Mann, den sie begehrte. Doch alle hatten sie irgendeinen Einwand, irgendeinen Vorwand – eine dringend zu erledigende Angelegenheit, einen im Sterben liegenden Verwandten, eine eifersüchtige Ehefrau im Nacken, einen Verbrecher, der zur Strecke gebracht werden musste, oder ein unaufschiebbares Geschäft. Und immer war sie es, die hintan-, die in ihrer Glut kaltgestellt wurde, weder erhört noch erlöst. Und so wurde ihre Leidenschaft, ihr Verlangen, ihre Liebe, ihr Bedürfnis, zu suchen und zu finden, noch drängender. Ach, wenn wenigstens jemand verstünde, dass von allen Liebenden sie die reinste war, weil sie nicht für eine bestimmte Liebe lebte, sondern für das höchste Sinnbild absoluter Liebe, die in einem beliebigen Körper Fleisch werden und sich offenbaren konnte.
Und doch gab man ihr so wenig Raum. Ihre Person interessierte niemanden. Wenn jemand sie einlud, dann nur, weil man in ihr eine Art Gesellschaftsdame Cecilia Valdés’ sah. Selbst die Frauen sahen in ihr eher ein Haushaltsgerät als eine Frau. Und mit ihrem Reden (ihrem Klagen) würde sie von einem Moment auf den anderen aufhören müssen, weil nicht einmal den Autor
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