Engelsblut
aber taub; Samuels Brüder, von denen einer unverheiratet in der Hauptstadt studierte, interessierten sich nicht für den Verachteten; Marie gab weiterhin vor, den Verstand verloren zu haben.
Veronika indes traf eine Entscheidung, besprach sie zuerst mit dem Gatten und dann, als dieser sie abwies, mit der umnachteten Marie. Jene versuchte sie zu überzeugen, dass es nichts Rechtes sei, Blutengel zu malen.
Veronika war eine anständige, tugendhafte Frau und trug ihr Urteil über Samuel mit unaufdringlichem, aber bestimmtem Ton vor. Sie war sich ihrer Sache sicher. An Samuels Antlitz konnte sie sich kaum besinnen. Aber sie erinnerte sich an Lena, die aufmüpfige Magd, die dem Verfemten unerlaubt gefolgt war. Dies durfte nicht sein. Es hätte ihr niemals erlaubt werden sollen. Spätestens jetzt musste die Ordnung, in die Veronika so tief verwurzelt war, wiederhergestellt werden.
Marie glotzte so lange und stumm, bis Veronika meinte, in ihr eine Verbündete gefunden zu haben.
»Ihr werdet mich begleiten, wenn wir ihn holen fahren!«, erklärte sie zuletzt. »Wer sonst, wenn nicht die Mutter, muss den Sohn zur Räson bringen!«
Sie brachen auf, kamen schweigend an und entstiegen dem Gefährt. Marie weigerte sich zu wissen, wo sie waren und dass sie einen Sohn hatte, den es heimzuholen galt, aber Veronika war zu bodennah für Maries Wahnsinn. Sie ignorierte ihn und riss die viel loser Verwurzelte entschlossen mit sich.
Nun, da Marie willenlos folgte und sie gemeinsam den Saal betraten, war es Veronika, die zögerte.
Sie kamen dort an, wo sie keine Erde zum Wachsen fand. Sie suchte Samuel und fand Menschen, die rote Gewänder trugen, sich zur Ader ließen und an merkwürdigen Bildern malten. Es war warm, die Luft stickig. Die meisten lungerten gelangweilt herum, einige leichenblass. Es roch nach Farben, nach Schweiß und nach Blut – frischem und getrocknetem. Marie hielt sich die Nase zu, denn menschliche Gerüche waren ihr schon lange fremd. Veronika aber ging schnüffelnd weiter, und worauf sie stieß, erfüllte sie mit Bangen und Schrecken.
»Wo ist Samuel von Altenbach-Wolfsberg?«, fragte sie schüchtern.
Langsam richteten sich glasige Augenpaare auf sie. Niemand antwortete.
»Lass uns gehen«, flüsterte Marie verwirrt.
»Wir sind gekommen, um Samuel heimzuholen«, erklärte Veronika zaghaft. »Wir sind seine Familie! Wir haben das Recht, über ihn zu bestimmen! Dies hier ist seine Mutter, und ich bin seine Schwägerin!«
Die Worte, die sie nutzte, deuchten sie ungehörig streng; die Stimme hingegen kam der Entscheidung, dass hier Unrechtes geschah, nicht nach.
»Ich verlange, mit Samuel von Altenbach-Wolfsberg zu sprechen, sofort und ohne Umschweife!«, sagte Veronika weiterhin nur raunend. »Dies könnt ihr seiner Familie nicht verbieten! Seine Mutter will ihn sehen!«
Ihr Blick zauderte. Ihre Worte verflüchtigten sich. Beunruhigt suchte Veronika nach Augen, die sie ansahen, und nach einem Mund, der ihr antwortete, aber niemand verhielt sich, als hätte er sie gehört.
»Habt ihr mich nicht verstanden?«, fragte sie und suchte mehr Gewicht in ihren Tonfall zu legen. »Wo ist Samuel von Altenbach-Wolfsberg?«
Sie lauschte vergebens auf ein Echo. Jeder tat, als gäbe es sie nicht. Keiner verstand, wogegen sie anredete. Zuletzt drehte sie sich hilfesuchend um, erblickte Grothusen, den sie nicht kannte, erblickte schließlich Lena, die nur noch eine schmale Kontur ihrer selbst war.
»Bring du mich zu Samuel!«, befahl sie verlegen.
Lena antwortete nicht. Sie war ausdruckslos wie alle Menschen im Raum.
Veronika erblasste und wusste nicht, ob sie sich ducken oder aufrichten sollte. Da löste sich endlich einer aus der Menge, musterte sie traurig und verloren, nickte ihr zu, als wolle er andeuten, dass sie nutzlos wütete. Andreas von Hagenstein bat still um Verzeihung und gab sich solcherart als verkappter Verbündeter aus.
Erleichtert ging Veronika auf ihn zu, fand ihren Halt wieder und fand – zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben – den Mut, die Stimme zu erheben. Nicht länger flüsterte und murmelte sie. Sie wurde laut. Sie kreischte und brüllte.
»Ihr seid des Teufels!«, schrie sie Andreas an.
Hinter ihnen ertönte Gelächter. Veronika überhörte es.
»Ihr seid des Teufels!«, wiederholte sie schreiend und schritt noch näher an Andreas heran – den Einzigen, der zu verstehen schien. Selten rückte sie so hastig von der Stelle, und kurz befiel sie darum Furcht, sie möge einknicken.
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