Engelsblut
Maximilian ist qualvoll gestorben«, berichtet sie mit glitzernden Augen. »Eines Tages begann seine Zunge zu schmerzen. Später ist sie schwarz geworden und ihm im Mund verfault. Er litt schreckliche Schmerzen – aber er konnte nicht mehr reden und sie darum auch nicht benennen.«
Dass mein Gesicht gleichgültig bleibt, scheint sie zu stören. »Des Grafen Sohn – mein Mann – hatte stets Angst vor gleichem Geschick!«, setzt sie unerbittlich fort. »Stattdessen wurde er vom Pferd geworfen und verblutete eine ganze Woche lang daran.«
Obwohl ich ihr kein Entgegenkommen für die schauerlichen Geschichten zeigen will, murmel ich dennoch: »Ein schlimmes Geschick.«
Sie wendet sich ab.
»Vielleicht ist es Samuels Fluch, der bis heute auf uns lastet«, endigt sie.
»Des Einsamen Gestalt
kehrt also sich nach Innen
und geht,
ein bleicher Engel,
durch den leeren Hain.«
GEORG TRAKL
ZEHNTER TAG
Es ist zu erzählen, wie Veronika zu Boden fällt, Doktor Mohr eine Tote liebt und Andreas Grothusen küsst
Manchmal geschah es in dieser Zeit, dass Samuel einen Menschen berührte. Er verließ sein Gemach und wurde von Grothusen zu jenen gebracht, die ihr Blut gaben und dafür die Schwelle des Todes betraten. Dann neigte er sich zu einem von ihnen nieder, hielt dessen Hand und fühlte einen fremden Atem auf sein Gesicht blasen. Weil jener schwach war und die Hand, die er drückte, schlaff, ekelte er sich nicht. Hernach malte er mit seinen Schülern und zeigte sich beglückt, weil er seinen gebrochenen Finger nicht mehr spürte und weil die Antwort auf seine Bilder heftiger ausfiel als früher.
Grothusen hatte beschlossen, dass nicht nur die Schüler Samuel sehen durften, sondern künftig auch Käufer und Kunsthändler in seine Einsamkeit vordringen sollten. An ihnen mochte er erkennen, wie seine Engel reiften und vollkommen wurden. Manch einer brach vor ihrem Anblick nieder, verströmte Tränen und kreischendes Gelächter und küsste Samuels Füße. Jener lächelte, nahm die Gunstbezeugung dankbar hin und vermied es, das verzückte Antlitz genauer zu betrachten. Er wollte nicht erforschen, welche Absichten sich in Wahrheit dahinter verbargen. Er wollte sich nicht von fremden Gedanken quälen lassen.
Draußen vor der Türe wartete Grothusen und gab einem jeden, der vor Samuels Bildern zusammenbrach, Geld zurück, anstatt es für die Bilder zu nehmen.
»Das habt Ihr gut gemacht«, sagte er zu einem, dessen Schauspiel sehr gelungen war. »Es war, als meintet Ihr es ernst!«
Der Mann lächelte stolz. »Gern kann ich morgen wiederkommen und in Ohnmacht niedersinken, wenn Ihr es wünscht.«
»Nein, nein!«, wehrte Grothusen ab. »Wir sollten diese Zustimmung sorgfältig dosieren, auf dass Samuel nicht aufhört zu malen.«
Satt ging er durch die Gänge, sah Lena zu, wie sie Samuel beschämt mied, und kaufte sich von dem stetigen Gewinn eine Kette aus funkelndem Rubin, die er trug, wenn er weitere Schauspieler bestellte.
In dieser Zeit, da Samuel so viele Bilder malte wie nie zuvor, schwieg Andreas beharrlich.
Wortlos hörte er zu, wie man einfache Tagelöhner anwarb und ihnen Geld für einen besonderen Dienst versprach. Wortlos beobachtete er das Gebaren bestochener Ärzte, die den Saal des Palais in ein Lazarett verwandelten. Wortlos gewahrte er, dass Grothusen sich an seinem zufriedenen Lächeln festbiss und Lena wie ein bleicher Schatten durch die Räume huschte.
Erst an einem Tag im Frühsommer sprach er wieder. Es geschah, als die Gemeinschaft in ihr drittes Jahr ging. Und es geschah, weil die Gräfin Veronika von Altenbach-Wolfsbach kam, um Samuel heimzuholen.
Samuels Schwägerin, die ihn seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hatte, war bodenständig. Sie ging nicht weich und elegant. Ihre Füße schienen so tief im Boden verwurzelt, als müsse sie diese mit jedem Schritt erst mühsam aus der schwarzen Erde wühlen. Sie lebte schwerfällig, aber mit Balance. Nie drängte sie sich freiwillig in eine bestimmte Richtung – aber wo das Leben sie hinstellte, dort lebte sie erdverbunden und wartend. Zuerst wartete sie auf den Ehemann. Dann, nachdem sie ihn zugewiesen bekommen hatte, auf ein Kind. Während sie wartete – und das tat sie sieben Jahre lang umsonst –, hörte sie von Samuel Alts Ruf, der sich auch in seiner Heimat verbreitete. Sie war die Einzige, die hörte. Graf Maximilian ließ sich von allen Geld bezahlen, die Samuels frühere Bilder auf dem Dachboden betrachten wollten, stellte sich ansonsten
Weitere Kostenlose Bücher