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Engelsblut

Engelsblut

Titel: Engelsblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kroehn
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Doch dann war es ihr, als ob sie nicht nur schwerfällig wäre, sondern der schwerste und gewichtigste Mensch, den es in diesem Raum gab.
    »Ihr seid des Teufels!«, tobte sie erneut. »Flieht diesen Ort, solange es euch möglich ist! Hier hausen Sünde und Verderben!«
    Weil Andreas ihr lauschte und weil sie mit jedem Wort vernehmbarer wurde, begannen auch andere, sie wahrzunehmen. Etwas tat sich am anderen Ende des Saals.
    »Es reicht!«, zischte Doktor Simon Grothusen. »Ihr habt genug gefaselt!«
    Veronika reichte es nicht. Die Stimme, mit der sie den Raum füllte, war ihr zu wenig. Sie kroch dichter an Andreas’ Gestalt, gab nicht nur den Worten Schwere, sondern auch den Händen, hob sie hoch und fasste an den fremden Hals.
    Bislang hatte sie ihr Gewicht sorgsam verteilt und keiner Leidenschaft jemals zu viel gegeben. Jetzt setzte sie alles, was sie hatte, ins Zupacken und Zudrücken.
    »Ihr seid des Teufels!«, wiederholte sie.
    Andreas versuchte nicht, sich gegen sie zu wehren. Es ließ ihn gleichgültig, dass ihm die Luft ausging. Eben hatte er nach langen Wochen des Schweigens etwas sagen wollen. Nun erkannte er an ihrem Gesicht, dass sie ihm nicht erlauben würde, irgendetwas schönzureden.
    Sie wird mich töten, dachte er mit einem Anflug von Schadenfreude. Sie wird mich töten.
    Er fügte sich ihr und wartete dankbar auf den Mord. Stattdessen hörte er, wie Grothusen zu Lena sagte: »So tu doch etwas, tu etwas!«
    Lena hatte bis dahin unbeteiligt geglotzt. Auch jetzt blieb sie starr stehen. Das Einzige, was sich bewegte, waren ihre Lippen. Zögernd nur öffneten sie sich, um dann einen kurzen, aber durchdringenden Schrei auszustoßen. Er verlor sich rasch in der großen Halle, aber er war höher und schriller als alles, wozu sich Veronika aufgerafft hatte. Als er Veronikas Ohr erreichte und sie solcherart mühelos übertönte, zuckte sie zusammen. Nicht länger fest verwurzelt stand sie da, sondern war für Augenblicke vom Boden losgelöst. Sie schwankte und ging nieder; sie fiel nicht nur, sondern fühlte sich gefällt; sie lag nicht nur hingestreckt, sie wähnte sich entwurzelt und entlaubt.
    Während alle anderen stehen blieben, war Andreas mit ihr gestolpert und auf die Knie gegangen. Er hockte selbst dann noch am Boden und rieb sich verwirrt den schmerzenden Hals, als Veronika sich mühselig und ächzend erhob.
    »Halt dein Maul!«, fügte Lena ihrem Schrei hinzu. »Halt dein Maul! Du hast keine Macht über mich! Wir sind für Samuel Mutter, Vater und Geschwister. Er ist unser!«
    Tastend suchte Veronika ihr Gleichgewicht und blieb doch leichenblass im Gesicht. Von unten herauf sah Andreas zu, wie ihre Füße wackelnd den Boden berührten, wie sie nach Marie griff und diese mit sich zog, ohne noch ein Wort hervorzupressen.
    »Es tut mir Leid«, sprach Grothusen zu Andreas. »Es tut mir Leid, dass Lena so lange gezögert hat, dir gegen das verrückte Weib zu helfen.«
    Andreas nahm die Hand nicht, die Grothusen ihm bot, und erhob sich ohne fremde Stütze.
    »Lass mich«, sprach er erste Worte nach all den schweigsamen Wochen und stürmte Veronika nach ins Freie.
    »Ihr habt es auch gefühlt, nicht wahr?«, rief er laut, als er sie bei der Kutsche erreichte und am Arm packte, um sie aufzuhalten. »Es schien, als würde die Erde für einen Augenblick stillstehen von Lenas Schrei. Darum konnten wir nicht aufrecht stehen bleiben! Darum fielen wir! Einmal schon hat so ihr Ruf getönt – als wir in Cronberg lebten und ich vor Samuel fliehen wollte...«
    Veronika riss sich unwirsch von ihm los und schob Marie in die Kutsche. »Lena ist eine Hexe mit bösem Blick«, zischte sie voller Zorn – und zugleich voller Angst. »Sie ist keine gewöhnliche Frau! Unmöglich ist’s, nicht an die Mär zu glauben, wonach ihr Schrei das Ruckeln und Zuckeln der Weltenmaschine aufzuhalten vermag.«
    »Aber wie kann es sein, dass sie die Stimme nutzt, um Euch zu vertreiben, nicht aber, um die Wahrheit über Samuels Engelbilder zu bekunden?«, rief Andreas verzweifelt.
    Veronika starrte ihn an; sie verstand nicht, was er meinte, aber sie fühlte entgegen ihrem vorigen Wüten Mitleid mit ihm. »Kommt doch mit mir! Flieht diesen Ort! Er hat keine Zukunft! Denn wenn Lena mich auch von hier verjagt, so wird doch der Mächtige im Himmel sie dereinst bestrafen für ihr Teufelswerk und ihren Hochmut.«
    Langsam gewannen ihre bleichen Züge wieder an Farbe und ihre Bewegungen an Festigkeit.
    »Ich bin schuld, dass es diesen Ort

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