Engelsblut
der Schrecken über den grausigen Anblick der Nebenbuhlerin gewesen sein, der ihn nach Felicitas’ Tod nach ihr treten ließ. Doch Samuel strafte ihr hündisches Warten auf einen Sohn, der Trotz, Verrat und Kränkung heilen möge, mit Ablehnung.
Er schrie nie und wehrte sich selten mit Worten – aber wenn sie ihm zu nahe trat, zuckte er zurück, wies sie ab und erklärte ein ums andere Mal, dass sie nicht seine Mutter sei.
Der Graf fand die Sache leidlich lustig. Die vage Ordnung, die seit Felicitas’ Tod zwischen ihnen herrschte, war durch Maries hoffnungsloses Bemühen, die Mutterschaft einzulösen, nicht bedroht. Sollte sie sich nur an dem störrischen Kind die Zähne ausbeißen – er würde sie gewiss nicht davon abhalten, solange sie nicht Gleiches von ihm verlangte.
Während Marie um die Liebe des Sohnes buhlte und der Graf dabei zusah, wurde Samuel erzogen. Ein Lehrer, der auf dem Gutshof als Erzieher fungierte und sich bereits der zwei Söhne des Grafen aus erster Ehe annahm, brachte ihm ab dem siebten Lebensjahr das Schreiben und Rechnen bei. Ob Samuel dies gefiel, ließ sich nicht erkennen. Zumindest gehorchte er ohne Widerstand. Er lauschte stumm, schluckte, was man in sein Gedächtnis träufelte, und spuckte hernach, wenn man auf Wiederholung pochte, alles wieder aus.
Was ihm gefiel, war, dass er jetzt nicht nur weißes Papier, sondern auch noch schwarze Tinte besaß. Wiewohl vom Lehrer angehalten, Buchstaben zu schreiben, nutzte er beides, um die Gesichter der Menschen darauf festzuhalten, die ihm begegneten – beglückt, dass diese Zeichnungen länger währten als jene Skizzen, die er in die feuchte Erde gestochert hatte.
Wenn er malte, so nichts als Menschen. Nie griff er nach der Landschaft, dem aufgezwirbelten Himmel, dem schwitzenden Korn, der geröteten Sonne. Demgegenüber war er blind – stattdessen verkrochen sich seine Augen in jedes menschliche Antlitz.
Lange Jahre malte er heimlich, stapelte die Bilder unter seinem Bett, ohne sie selbst jemals genau zu mustern, und zeigte sie niemandem. Erst als er ins elfte Lebensjahr ging – es war zwei Jahre vor der Revolution im März – geschah es, dass jemand eine seiner Malereien erspähte.
Damals beschloss der Graf, dass Samuel auf die Firmung vorzubereiten sei und dass dies durch den Pfarrer Martinus von Greifenthal geschehen sollte, denselbigen, der einst Samuels Namen gewählt und ihn zur Taufe gehoben hatte. Der Graf entschied auch, dass der Pfarrer dem Knaben eine sorgsame religiöse Erziehung angedeihen lassen möge, vielleicht als Vorbereitung auf den geistlichen Stand, zumindest aber zu dem Zweck, nicht nur die Seele, sondern auch deren Heil zu kontrollieren und zu lenken.
Martinus von Greifenthal entstammte einer verarmten Familie, hatte das Priesteramt gewählt, um dem Ruin zu entkommen, und erkaufte sich als Mittler Christi einen Respekt, den ihm seine Herkunft niemals hätte gewähren können.
Er passte sich den pastoralen Grundregeln seiner Zeit an, die Menschen zu einer aufrechten moralischen Haltung zu führen, sie die zehn Gebote zu lehren und somit in festen Lebensprinzipien zu verwurzeln. Zugleich aber war er damit uneins, wenn es um die Prioritäten des eigenen Glaubens ging. Der Verstand und die Moral, die dem Verstand folgte, waren ihm von großer Bedeutung – aber sein Herz war ihm wichtiger, und dieses Herz liebte ausschweifende Geschichten. Die Vätererzählungen des Alten Testaments gehörten dazu, die Schilderungen von Jesu Leben im Neuen, vor allem aber die vielen Legenden, die Zeugnis gaben vom wundersam starken Gottvertrauen vergangener Geschlechter.
Pfarrer Greifenthal war sanft und gutmütig, studierte aber am liebsten jene Viten, in denen die großen Heiligen blutrünstige Martyrien erfuhren, in denen dem einen die Gedärme aus dem noch lebenden Leib gezogen und aufgerollt, dem anderen stückweise seine Haut vom Leib gerissen und der Rest verbrannt wurde.
Die Vorstellung, dass Menschen dies ertrugen, war ihm selbst unerträglich. So war die Theologie für ihn ein Mysterium, das sich nur erfühlen, nicht erdenken ließ – und dies wiederum hieß, dass er entgegen jeder pastoralen Regel (und immerhin hatte er dereinst die Schriften des Matthias Fingerlos studiert) die Fragen der Moral häufig zugunsten der Farben jener Geschichten zurückstellte.
Gleiches geschah auch, wenn er bei Samuel weilte. Noch ehe der Knabe die zehn Gebote herunterzählen konnte, war es ihm dank Schulung durch Hochwürden
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