Engelsblut
möglich, die Heiligen im Jahreskreis einzeln zu benennen. Dass der Knabe beim Zuhören zeichnete, störte den Pfarrer nicht. Vielleicht würde es dem talentierten Kind dereinst gegeben sein, Kirchenwände mit Märtyrerlegenden auszuschmücken. Er ließ ihn gewähren und sah nicht recht hin, was der Knabe tat. Eine Tages erzählte er ihm vom Schicksal der heiligen Perpetua, die von den Hörnern eines wilden Stieres in der römischen Arena lebendig aufgespießt worden war. Ein grausames Geschick, gewiss, doch wie das bei Märtyrern ihrer Art üblich war, öffnete sich der Himmel, ließ Engel regnen, die Sterbende von der heiligen Schar aufnehmen und mit Lorbeer krönen.
Der Pfarrer schnaufte zufrieden. Er legte Wert darauf, dass die Geschichten trotz allem ein gutes Ende nahmen.
»Engel?«, fragte Samuel aufblickend.
Der Pfarrer lächelte nachsichtig. »Gewiss hast du schon von ihnen gehört!«, gab er zurück. »Und gerne sage ich dir mehr darüber!«
Wiewohl er sich nun nicht weiter Perpetuas mörderischem Stier widmen konnte, war es ihm eine angenehme Pflicht, den Jungen über die himmlischen Hierarchien aufzuklären.
»Engel sind die kostbarsten und teuersten Geschöpfe, die zwischen Himmel und Erde wohnen«, hob er zu dozieren an und betupfte sich seine Stirn, weil ihm warm wurde. »Sie sind Boten Gottes, des Kosmokrators willfährigste Diener, leibfreie, numinose Geister, die Luft und Meere, Himmel und Erde mit ihrem sanften Sein erfüllen. Sie schützen behutsam Kinder, begleiten die Seele der Verstorbenen, kämpfen mit Inbrunst gegen die Dämonen.«
Pfarrer Martinus Greifenthal machte schwer atmend eine Pause und gewahrte, dass Samuel aufgehört hatte zu malen. Dies schien Hochwürden ein gutes Zeichen zu sein, um bestärkt fortzufahren.
Die drei größten Engel, erklärte er, hießen Gabriel, Michael, Raphael. Es gebe noch weitere, die Namen trügen. Uriel, Rafael, Raguel, Sariel, Remiel. Gott schicke sie durchs Universum als seine Botengänger und Diener und weise ihnen die vielfältigsten Aufgaben zu – sie hätten Visionen zu deuten, den Kosmos zu ergründen und Recht zu lehren.
Samuel starrte gebannt.
»Den Engeln ist es zudem zu Eigen«, ergänzte Hochwürden Greifenthal lächelnd, »dass sie sich stets für das Gute entscheiden. Ein Engel, der heilig ist, wird niemals eine Sünde tun, weil ihm das Heil – hat er sich diesem zugewendet – für immer und ewig gebührt. Freilich«, und bei diesen Worten leckte sich der Pfarrer seufzend über die Lippen, »freilich gibt es auch solche Engel, die sich für das Böse und gleichsam für die Verdammung entschieden haben. Der Teufel ist solch ein gefallener Engel. Man nennt ihn Satanael oder Luzifer, auch Kesperlin oder Sammael, was heißt: Engel des Giftes. Dieser Engel besitzt noch den Abglanz seiner früheren Hoheit, aber er ist das Hässlichste und Böseste, was man sich denken kann. Er ist ein finsterer, verabscheuungswürdiger Knecht, dem Ewigen Feuer verfallen, wo Sünder bratend leiden und wo der Boden niemals erlöschend Schwefeldämpfe speit. Aus seiner rotschwarzen Fratze tönen nur gurgelnde Laute; in seiner verkommenen Seele sind das Elend und der Jammer der Welt auf immerdar eingeschrieben.«
Den Pfarrer gruselte es. Schaurig schön genoss er es, vom Teufel zu berichten. Gleichwohl gedachte er, dass er dem Knaben nicht zu viel verraten dürfe, dass er ob seines kindlichen Alters zu schonen sei, dass das Schreckliche und Sündige ihm in den Ohren klingen möge, jene aber nicht randvoll zu füllen habe.
»Die guten Engel aber«, schloss der Pfarrer darum eifrig, »leben getreu den göttlichen Geboten über den Wipfeln der Wolken, wo sie von Gottes Odem getragen werden. Ihr Flügelschlag wirft keine Schatten, sondern hinterlässt eine weiße Spur in des Himmels Äther, die einem hauchdünnen seidenen Faden gleicht. Dies begreife, wer es zu begreifen vermag.«
Der Pfarrer endete mit einem neuerlichen tiefen Seufzen. Indes hockte Samuel wie totenstarr – und erst nach längerem Schweigen tat er eine Regung. Stumm griff er zu seinem Kohlestift und begann als Antwort auf die Ausführungen zu zeichnen.
Neugierig beugte sich Hochwürden vor. Den Knaben musternd, kam ihm zum wiederholten Mal in den Sinn, dass jener in Bildern ausschmücken könne, wovon andere nur farbenprächtig erzählten, dass er mit seinem Werk dort fortzufahren vermochte, wo anderen die Worte ausgingen.
Er trägt die Silbe Gottes »El« in seinem Namen wie die Engel,
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