Engelsfluch
Geflügelten geträumt?«
»Ja, Enrico. Auch ich hatte viele Jahre lang Angst vor diesem Traum, bis ich erkannte, dass Uriel mich auf eine Probe stellte.
Er erschien mir im Traum als der Lichte und als der Dunkle, und erst als ich mich zum Lichten bekannte, verschwand Luzifer für immer aus meinem Traum.«
»Uriel und Luzifer? Du sprichst von ihnen, als seien sie eine und dieselbe Person.«
»Vielleicht kommt das der Wahrheit nahe«, sagte Salvati.
»Aber wir sollten uns hüten, von Personen zu sprechen und dabei an menschenähnliche Wesen zu denken. Gewiss, wenn wir in der Heiligen Schrift oder in anderen Quellen von Engeln lesen, werden sie uns sehr menschenähnlich geschildert, vielleicht noch mit Flügeln, wie sie auch Uriel in unseren Träumen trägt. Aber das alles sind Hilfen, Krücken, die wir Menschen benutzen, um uns die eigentlich unbegreifliche Engelsmacht wenigstens ansatzweise vorstellen zu können. Ich glaube, dass Uriel und Luzifer tatsächlich nur zwei gegensätzliche Ausprägungen derselben Kraft sind. Und das macht sie doch wieder menschenähnlich. Auch wir haben in allem, was wir tun und lassen, immer die Wahl, uns vom Licht oder vom Schatten leiten zu lassen.«
»Der ewige Kampf zwischen Gut und Böse«, fügte Custos hinzu.
Salvati nickte und wirkte gleichzeitig betroffen. »Ein Kampf und eine Prüfung, der wir uns immer wieder aufs Neue stellen müssen. Auch mir erging es nicht anders, als ich von der wahren Vision erfuhr, die Fabrizio Piranesi in den Bergen von Borgo San Pietro hatte. Ich meine den verblendeten Papst, der im Bann des Verfluchten stehen soll, des Engelsfürsten. Als ich das hörte, zweifelte ich an mir und an allem, was ich bisher geglaubt und getan hatte. Mehr noch, ich zweifelte am Erzengel Uriel selbst, unserem Ahnherrn, dem Engelsfürsten.«
»Du sprichst, als hättest du deine Zweifel überwunden«, fand Enrico.
»Das habe ich. Es war die Prüfung, die ich zu bestehen hatte.«
»Also glaubst du nicht, dass Fabrizio Piranesi die Wahrheit gesprochen hat.«
»Ich halte Fabrizio Piranesi und seinen Bruder Angelo nicht für Lügner, ganz bestimmt nicht. Aber Visionen sind, wie dir auch Signorina Falk sagen kann, eine Frage der Interpretation.
Dieselbe Erscheinung wird auf ein Kind anders wirken als auf einen Erwachsenen, auf einen Mann anders als auf eine Frau, auf einen Tiefgläubigen anders als auf einen Atheisten. Verhält es sich nicht so, Signorina?«
»Ja«, erwiderte Vanessa. »Ich hätte es nicht treffender sagen können.«
»Ich habe lange über Fabrizio Piranesis Weissagung nachgedacht«, fuhr Salvati fort. »In den vergangenen Tagen hatte ich dazu ausreichend Zeit. Nach allem, was ich über Lavagnino und seine Machenschaften erfahren habe, bin ich tatsächlich jener verblendete Papst, der dem falschen Weg gefolgt ist. Aber ich weigere mich, Uriel zu verdammen. Nichts spricht gegen den höchsten der Engel, alles aber gegen mich. Ich hätte mehr Zwiesprache mit unserem Ahnherrn halten sollen, dann hätte ich den verhängnisvollen Pfad nicht beschritten. Ja, ich stand tatsächlich im Bann des Verfluchten, aber das war nicht Uriel, sondern Luzifer. Im Gegensatz zu dir, mein Sohn, habe ich die Teufelsfratze nicht gesehen, als es darauf ankam.
Das ist die große Gefahr, wenn man die Angst überwindet: Man stellt sich nicht mehr selbst in Frage.«
»Es kann schnell geschehen, dass man in gutem Glauben das Falsche tut«, stimmte Vanessa ihm zu. »Und wenn man es bemerkt, kann man es nur noch bereuen, aber nicht mehr ungeschehen machen.«
Enrico sah sie an und musste daran denken, wie sie auf dem Landsitz einen Zusammenbruch erlitten hatte, als Lavagnino seine Untaten offen eingestand. Ein Gedanke, der schon da in ihm aufgekeimt war, nahm erneut Gestalt an. Ein Gedanke, den er am liebsten sofort und für immer aus seinem Kopf verbannt hätte. Aber je länger er über Vanessa nachsann, desto deutlicher stand es ihm vor Augen.
Er sah Vanessa traurig an. »Bereust du es auch? Bereust du, dass du für Lavagnino spioniert und ihm bei seinen Morden geholfen hast? Oder war es für dich als Mitglied von Totus Tuus deine Christenpflicht?«
Vanessa musste lange schlucken, bevor sie antworten konnte.
»Ich bin kein Mitglied von Totus Tuus . Aber das andere stimmt.
Ich hielt es tatsächlich für meine Christenpflicht, Kardinal Lavagnino zu helfen.«
»Und die von ihm bestellten Morde haben dir nichts ausgemacht?«, fragte Enrico mit lauter, bebender Stimme.
»Davon
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