Engelsfuerst
hieß, einer brisanten Sache auf die Spur gekommen war.
Die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Lastwagens blendeten Elena, und fast hätte sie die schmale
Einfahrt zur Linken übersehen. Hastig trat sie aufs
Bremspedal und riß das Lenkrad herum. Sie spürte,
wie ihr kleines Auto bei dieser Gewaltaktion für einen
Augenblick die Bodenhaftung verlor. Doch schließlich rumpelte der Fiat über eine schmale, mit Schlaglöchern übersäte Straße. Zunächst versperrten hohe
Hecken die Sicht auf die Häuser, dann machten die
Gebäude unbebautem Gelände Platz.
So wird es hier nicht mehr lange aussehen, schoß es
Elena durch den Kopf. So nahe an Rom war jeder
Bauplatz wertvoll, und im 21. Jahrhundert spielten alte Legenden keine große Rolle mehr. Diese Gegend
galt seit Jahrhunderten als verflucht, und deshalb hatte
bisher niemand gewagt, sich hier anzusiedeln.
Im Jahr 1527, als die kaiserlichen Landsknechte Rom
plünderten, hatten sich viele Frauen, Alte und Kinder
in das Urbanistinnenkloster Sant’Anna geflüchtet, das
hier draußen lag. Aber die Klostermauern boten keinen wirksamen Schutz gegen die wilde Horde, die seit
Wochen ohne Sold und ausreichende Verpflegung war
und sich endlich an den Schätzen Roms schadlos halten wollte. Enttäuscht mußten die Plünderer feststellen, daß bei den Urbanistinnen, die einem strengen
Armutsgebot folgten, nichts zu holen war – und ließen ihre Wut an den Menschen aus, folterten, mißbrauchten und mordeten, gleich, ob es sich um Frauen
oder Kinder, um Flüchtlinge oder Nonnen handelte.
Wenn man der Legende glauben konnte, hatte niemand im Kloster die Gewaltorgie überlebt. Nach dem
Sacco di Roma, der Plünderung Roms, hatte es verschiedene Versuche gegeben, das Kloster und die Umgegend neu zu besiedeln. Unfälle und Seuchen, die
sich in dieser Gegend häuften, hatten aber bald dazu
geführt, daß von einem Fluch gemunkelt wurde, von
den Geistern der Ermordeten, die jeden heimsuchten,
der sich dem Kloster auch nur näherte. So lag das
Umland von Sant’Anna brach, und das Kloster selbst
war nur noch eine Ruine, die zusehends verfiel.
Als das Scheinwerferlicht über die maroden Klostermauern glitt, kroch Elena ein Schauer über den
Rücken. Sie war erst einmal hiergewesen, vor eineinhalb Jahren, als sie an einem Artikel über verfallene
Klöster und Kirchen rund um Rom arbeitete. Das war
im Sommer gewesen, da hatte die hoch am Himmel
stehende Sonne dem Ort alles Unheilvolle genommen.
In dieser Sturmnacht jedoch verwünschte sie Picardi
und seine Idee, sie ausgerechnet bei Sant’Anna zu treffen.
Sie ließ den Fiat langsam über den unebenen, vom
Regen aufgeweichten Boden auf das Kloster zurollen
und versuchte auszumachen, ob Picardi schon da war.
Als sie niemanden entdecken konnte, stellte sie den
Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus. Zum
Glück hatte sie einen Schirm mitgenommen, den sie
aufspannte, sobald sie die Fahrertür aufgestoßen hatte.
Schirm oder nicht, der Sturm fegte ihr eine kleine
Gischt ins Gesicht. Elena griff nach der großen Stablampe, die auf dem Beifahrersitz lag, stieg vollends
aus, schloß die Tür und sah sich um. Mitternacht war
längst vorbei, aber von Picardi keine Spur. Sie rief
mehrmals laut nach ihm, ohne jedoch eine Antwort zu
erhalten.
Um nicht restlos durchnäßt zu werden, schritt sie
auf die Ruinen zu. Vielleicht wartete Picardi in ihrem
Schutz und hatte Elenas Rufe wegen des lauten Regens nicht gehört. Sie hatte das verwitterte Tor noch
nicht ganz erreicht, als hinter ihr ein Motor aufheulte.
Fast gleichzeitig flammten Scheinwerfer durch die
Nacht.
Ein Wagen, der im Schatten eines Pinienhains gestanden hatte und dessen Umrisse sie nur undeutlich
ausmachen konnte, setzte sich in Bewegung. Offenbar
hatte Picardi dort gewartet und sich zunächst vergewissert, ob sie auch wirklich allein gekommen war.
Ein typischer Fall von Verfolgungswahn, dachte Elena
– oder Picardi hatte schwerwiegende Gründe für seine
Angst.
Der Wagen kam langsam näher und blieb neben
Elenas Fiat stehen. Der Motor wurde abgestellt, die
Scheinwerfer blendeten weiter. Als Fahrer- und Beifahrertür geöffnet wurden, fragte Elena sich, ob sie einen Fehler begangen hatte. Wenn Picardi so sehr auf
Geheimhaltung bedacht war, weshalb brachte er dann
jemanden mit?
Oder war das gar nicht Picardis Wagen?
Schlagartig machte sich Angst in Elena breit. Doch
es war nicht das erste Mal, daß sie sich in einer brenzligen Situation befand,
Weitere Kostenlose Bücher