Engelsfuerst
er blieb, vollkommen erschöpft, lang ausgestreckt liegen.
Es war, als hätte die Nacht ihm nicht die geringste
Erholung gebracht.
Die Traumbilder drängten sich in sein Bewußtsein
zurück, schon nicht mehr ganz deutlich, aber noch
immer mit dem Unterton der Bedrohung. Er sah die
altertümliche Stadt vor sich, fremd und zugleich seltsam vertraut wie die Menschen, die sie bewohnten. Er
hörte sie in einer ihm unbekannten Sprache reden. Im
Traum hatte er die Sprache nicht nur verstanden, sondern auch benutzt wie seine Muttersprache.
Nein, nicht wie , im Traum war es seine Muttersprache gewesen.
Er schloß die müden Augen und sah sich wieder
inmitten des Gedränges von Menschen, die einander
anschrien und handgreiflich wurden. Hände, zu Fäusten geballt, reckten sich in die Luft, und lautstark
forderten etliche Stimmen den Krieg. Andere versuchten, ihre Argumente dagegen vorzubringen, und mußten lauter und lauter werden, um nicht niedergebrüllt
zu werden.
Eine junge Frau, die im Vergleich zu den übrigen
ungewöhnlich helles Haar hatte, geriet zwischen die
Fronten, wollte vermitteln, wurde aber von beiden
Seiten angegriffen. Jemand stieß sie zur Seite, ein anderer griff nach ihrem Haar und zog daran, bis sie vor
Schmerz aufschrie und in die Knie ging. Die aufgebrachte Menge drohte über sie herzufallen und sie in
Stücke zu reißen.
Todesangst stieg in Enrico auf, Angst um die Frau,
die er liebte. Mit Fäusten und Ellbogen bahnte er sich
einen Weg, wobei er Mühe hatte, auf den Beinen zu
bleiben. Nur der Umstand, daß in der zornigen Menge ein heilloses Durcheinander herrschte, gab ihm
überhaupt die Möglichkeit, gegen sie zu bestehen.
Ein Hieb traf ihn am Kopf, ein anderer ließ seine
Unterlippe aufplatzen, und er spürte das warme Blut
an seinem Kinn hinunterrinnen. Aber er kämpfte sich
voran, bis er endlich bei der hellhaarigen Frau war
und sie vom Boden hochziehen konnte. Er begegnete
ihrem Blick und sah Sorge darin – um ihn, nicht um
sich selbst.
Eine Gruppe mit Knüppeln bewaffneter Männer
trieb den wütenden Mob zurück. Ihr Anführer hatte
ebenso helles Haar wie die Frau. Er sah ihr ähnlich,
war ihr Bruder. Mit seinen Gefolgsleuten bildete er
einen schützenden Schild um Enrico und die Frau, so
daß sie den Platz, auf dem nach wie vor lauthals und
handgreiflich über Krieg oder Frieden gestritten wurde, unbehelligt verlassen konnten.
Die Bilder verblaßten, aber die Angst blieb. Vielleicht weil schon einmal – im richtigen Leben – die
Frau, die er liebte, vor Enricos Augen in den Tod gegangen war. Damals im Innern des Monte Cervialto,
als Vanessa Falk sich mit Kardinal Lavagnino in den
unterirdischen See gestürzt hatte, um die Welt vor der
bösen Macht der gefallenen Engel zu bewahren. Die
Erinnerung lastete schwer auf Enrico, auch jetzt noch,
zwei Jahre danach. Er gab sich einen Ruck und stemmte sich hoch. Dabei durchfuhr ein kurzer, scharfer
Schmerz seinen Kopf, als wollten die düsteren Erinnerungen ihm bewußt machen, daß er sie nicht so einfach
abschütteln konnte.
Ein zaghaftes Klopfen an der alten Holzbohlentür
holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
»Ja?« Seine Stimme klang wie ein heiseres Krächzen.
»Bruder Enrico, das Frühstück wird aufgetischt.
Hast du das Läuten nicht gehört?«
Das war Bruder Francesco, der Jüngste in dem kleinen Konvent, in dem Enrico Zuflucht gesucht hatte,
um innere Einkehr zu halten und sich darüber klar zu
werden, wie er sein künftiges Leben gestalten wollte.
»Komm rein, Francesco«, sagte Enrico. »Es wird
mir guttun, das Gesicht eines lebendigen Menschen zu
sehen.«
Die schlanke Gestalt des jungen Mönchs steckte in
einer viel zu weit geschnittenen Kutte. Er wirkte geradezu verloren darin. In seinem schmalen Gesicht
spiegelte sich Besorgnis, als er Enrico betrachtete.
»Du hast wieder geträumt.«
Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Diesmal war es wohl besonders schlimm?«
»Sagen wir, es war ein sehr eindringlicher Traum.
So als hätte ich das alles selbst erlebt.«
Francesco trat an die Pritsche und legte Enrico eine
Hand auf die Schulter. »Vielleicht solltest du dich
nicht gegen die Träume wehren. Wenn Gott sie dir
schickt, haben sie etwas zu bedeuten.«
»So wird es wohl sein«, seufzte Enrico. »Ich frage
mich nur, was.«
Fünf Minuten später betrat er den Speisesaal, der
für die wenigen Mönche eindeutig zu groß war. Früher, bevor Francesco und seine Brüder hergekommen
waren, hatten wohl
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