Engelsfuerst
Polizeihauptquartier an der Via San Vitale vor ihm auftauchte. Es
war erst eine halbe Stunde her, daß Stelvio Donatis
Anruf ihn aus dem Schlaf geschreckt hatte.
Donati hatte aufgeregt geklungen, war aber nicht
recht mit der Sprache herausgerückt. Alexander hatte
nur erfahren, daß es um Elena ging, die in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte. Er hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, sich zu rasieren.
Als er nach dem Einparken vor dem wuchtigen Polizeigebäude kurz in den Rückspiegel schaute, blickte
ihm ein müdes, besorgtes Gesicht entgegen. Die uniformierte Wache am Eingang hatte ihn dank Donati
auf der Besucherliste, und so erhielt er nach kurzer
Paßkontrolle einen Besucherausweis.
»Ich nehme an, ich finde Dirigente Donati in seinem Büro«, murmelte Alexander und wollte schon
weitergehen.
»Nein, Signor Rosin«, erwiderte der Uniformierte.
»Er erwartet Sie im Leichenkeller. Kennen Sie den
Weg?«
Alexander nickte und spürte, wie er unter seinen
Bartstoppeln blaß wurde.
Im Leichenkeller!
Stelvio Donati war kein einfacher Commissario
mehr und beschäftigte sich nicht länger mit der Aufklärung von Mordfällen, jedenfalls nicht persönlich.
Er hatte jetzt den Rang eines Dirigente Superior inne,
eines übergeordneten Direktors, und leitete die Fahndungs- und Koordinationsstelle für Kapitalverbrechen, eine neue Einrichtung der EU zur grenzüberschreitenden Verbrechensbekämpfung.
Während Alexander ungeduldig auf den Lift wartete, versuchte er sich auszumalen, was ihn in der gerichtsmedizinischen Abteilung erwartete. Eine tote
Elena?
Sobald dieser Gedanke auftauchte, verdrängte er
ihn. Die Vorstellung, Elena könnte nicht mehr am Leben sein, verursachte ihm fast körperliche Schmerzen.
Ein Teil von ihm hätte am liebsten auf dem Absatz
kehrtgemacht und wäre davongelaufen. Der andere
Teil hielt es vor beinahe panischer Erregung kaum
aus, und Alexander hämmerte entnervt auf den kleinen Knopf, der die Liftkabine herbeirufen sollte.
Flackerndes Neonlicht empfing ihn im Keller des
Polizeigebäudes. Alexander mußte sich regelrecht
zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, so
sehr fürchtete er, was Donati ihm mitzuteilen hatte.
Der Dirigente erwartete ihn vor der schweren Stahltür, dem eigentlichen Eingang zur Gerichtsmedizin.
Auch Donati wirkte alles andere als ausgeschlafen. Sein
allmählich schütter werdendes Haar war nur unzureichend gekämmt, und seine dunkelblaue Krawatte saß
schief. In dem braunen Trenchcoat, den er wohl wegen
des anhaltend schlechten Wetters trug, erinnerte er
Alexander an diesen Fernsehinspektor, Columbo.
Noch bevor sie einander die Hand reichten, fragte
Alexander: »Was ist mit Elena?« Er zeigte auf die
Stahltür. »Liegt sie da drin?«
Als Donati den Kopf schüttelte, fühlte er sich erleichtert, jedenfalls ein wenig.
»Aber da liegt jemand anders auf dem Leichentisch,
jemand, der dich auch interessieren dürfte«, sagte der
Polizeidirektor und führte Alexander in einen gekachelten Raum, der trotz der allgegenwärtigen Ausdünstung von Desinfektionsmitteln nach Tod und
Verwesung zu riechen schien.
Vor dem Leichentisch stand eine kleine, ältliche
Frau im grünen Kittel, die an ihrem heruntergezogenen Mundschutz herumzupfte, offenbar unschlüssig,
ob sie sich der Leiche oder den beiden Männern zuwenden sollte. Dr. Gearroni blickte Alexander an wie
einen Fremden; sie schien sich nicht daran zu erinnern, daß sie einander bereits kennengelernt hatten.
Zweieinhalb Jahre zuvor, als Alexander bei dem Versuch, den Mord an seinem Onkel Heinrich aufzuklären, dem damaligen Kommandanten der päpstlichen
Schweizergarde, selbst unter Mordverdacht geraten
war.
Als Alexander sie darauf ansprach, erwiderte die
Pathologin in einem Ton, der jede Spur von Humor
vermissen ließ: »Ich kann mich nicht um die Toten
kümmern und mir gleichzeitig die Gesichter der Lebenden merken. Wenn Sie einmal hier vor mir auf
dem Tisch liegen sollten, Signore, dürfen Sie meiner
ungeteilten Aufmerksamkeit gewiß sein.«
»Was können Sie uns über den Toten sagen, Dottoressa?« schaltete Donati sich ein.
»Noch nicht viel. Ich komme ja kaum dazu, ihn mir
richtig anzusehen.«
»Können Sie bestätigen, daß er gewaltsam zu Tode
gekommen ist?«
»Hm, ja, vermutlich.«
»Geht es etwas genauer?«
Dr. Gearroni deutete auf eine große Wunde am
Kopf der Leiche. »Heftiger Schlag auf den Schädel,
mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfundneunzig
Prozent die Todesursache. Genau
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