Engelsgesicht
Spiegel war groß genug, um auch die Sicht auf die Oberschenkel zuzulassen. Genau dort gab es ebenfalls Problemzonen. Ein Begriff wie ›Orangenhaut‹ zuckte durch ihren Kopf. Damit hatten alle Frauen zu kämpfen, wenn die Jugend vorbei war. Gerade die Innenseiten der Schenkel wurden davon in Mitleidenschaft gezogen. So war es auch bei ihr gewesen!
War – wohlgemerkt.
Lisa lächelte zum ersten Mal freudig erregt, als sie sich leicht drehte und ihre Schenkel begutachtete. Die Orangenhaut war noch da, aber nicht mehr in dieser Menge. An einigen Stellen wirkte sie bereits wie glatt gestrichen.
Das war der erste große Erfolg. Und Lisa war überzeugt, dass andere folgen würden.
Sie lächelte sich selbst zu. Dann spitzte sie den Mund zu einem Kuss. Eine derartige Geste der Zufriedenheit hatte sie sich schon lange nicht mehr gegönnt.
Sehr tief atmete sie durch. Der Blutgeruch war vorhanden. Er blieb auch weiterhin, und sie schmeckte ihn auf ihrer Zunge. Für sie war es ein guter Geschmack. Ein Hinweis auf die nahe Zukunft, die sie in einer wahren Euphorie erleben würde.
Schon jetzt sah man ihr das wahre Alter nicht an. Sie hatte der Natur ein Schnippchen schlagen können und würde dies auch weiterhin tun.
Mit diesem Gedanken drehte sie sich vom Spiegel weg und ging zur schmalen Tür. Sie musste zweimal den Schlüssel drehen, um sie zu öffnen. Dann verließ sie ihre Welt, um hineinzutreten in die normale, in der sie die Früchte der anderen ernten wollte...
***
Zweimal hatte bei Cliff Lintock das Telefon geklingelt, doch er hatte beide Male nicht abgehoben. Er wollte nicht gestört werden. Er wollte und musste mit sich allein sein. Nur so konnte er es schaffen, sich den neuen Tatsachen zu stellen, die wie ein Sturmwind über ihn hinweggefegt waren.
Der Pfarrer hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen und an den Schreibtisch gesetzt. Es war zu seinem Lieblingsplatz geworden. Hier saß er jeden Abend und dachte über sich und auch seine Frau nach, die einfach verschwunden war.
Noch vor Tagen hatte er darüber nachgegrübelt, welche Fehler ihm unterlaufen waren. Das kam ihm jetzt nicht mehr in den Sinn. Für ihn waren andere Dinge wichtiger. Zwei junge Mädchen. Oder junge Frauen. Er lachte, als er daran dachte. Nein, Diana Crane und Silvia, seine Tochter, waren noch nicht erwachsen, auch wenn es nach dem Gesetz so erschien. Eigentlich hätten sie noch unter seinen Schutz gehört. Aber sie waren flügge geworden und hatten sich von ihrem Elternhaus abgeseilt.
Den Erfolg hatte er bei Diana sehen können. Und sie war nicht die einzige. Jetzt ging es auch um seine Tochter, obwohl er den Beweis dafür noch nicht besaß.
Aber der Pfarrer wollte ihn bekommen. Er würde ihn sich holen, und das noch in dieser Nacht. Diesmal würde er sich nicht ins Bett legen und warten, bis seine Tochter nach Hause kam. Er würde aufbleiben und gegen die Gefahr des Einschlafens ankämpfen. Am Schreibtisch sitzen und dort wachen.
Es war längst dunkel geworden. Das Telefon meldete sich auch nicht mehr. So blieb der Pfarrer in der Stille sitzen. Wartend, auch horchend.
Es passierte nichts. Seine Tochter kehrte nicht zurück. Kurz vor Mitternacht schlief Cliff Lintock für einen Moment ein, so glaubte er, doch als er erwachte und einen Blick auf die Uhr warf, da stellte er fest, dass er fast zwei Stunden in dieser unnatürlichen Haltung geschlafen hatte. An seinem Oberkörper schmerzten verschiedene Stellen. Die Muskeln waren dort angespannt, und etwas mühsam richtete er sich auf. Während des Schlafs hatte er mit dem Oberkörper auf der Schreibtischplatte gelegen. Eine nicht sehr gesunde Haltung, aber das war nichts im Vergleich zu dem Gedanken, der ihm als erster durch den Kopf huschte.
Wo ist Silvia?
Lintock blieb noch sitzen. Er zwinkerte. Seine Sicht war schlecht. Trotz des weichen Lichts blendete ihn die eingeschaltete Schreibtischleuchte. Er streckte die Hand aus, hob seine Brille von der Platte hoch und setzte sie auf. Jetzt sah er besser!
Im Zimmer hatte sich nichts verändert. Im Haus ebenfalls nicht. Nach wie vor war es ruhig. Aber es konnte durchaus sein, dass Silvia schon nach Hause gekommen war.
Cliff Lintock stand auf. Er verzog dabei das Gesicht, weil die Muskeln wieder schmerzten, doch er riss sich zusammen, drehte sich um und ging mit noch steifen Schritten zur Tür.
Als er sie geöffnet hatte, fiel sein erster Blick in den schmalen Flur, der natürlich leer war. Für den Pfarrer war die Treppe
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