Engelsgesicht
wichtig. Sie war schmal und führte hinauf in die erste Etage. Dort waren die Wände bereits schräg, und dort befand sich auch das Zimmer seiner Tochter, in das sie in der Nacht hinschlich.
Bevor er die Stufen hochging, schaute er sich die Garderobe an. Es konnte sein, dass ein Kleidungsstück seiner Tochter dort hing, aber da hatte sich nichts verändert.
War sie nicht da?
Der Pfarrer wollte den Beweis und stieg die alten Holzstufen hoch. In der Mitte waren sie zum Glück durch einen Teppich bedeckt, so wurden die Schritte ein wenig gedämpft. Lintock bemühte sich, sehr leise zu sein. Das Haus war ihm vertraut, schließlich wohnte er schon lange zwischen diesen vier Wänden, aber in dieser Nacht kam es ihm schon fremd vor. So düster und auch unheimlicher.
In der ersten Etage blieb er stehen. Die warme Luft am Tag hatte die Region hier oben aufgeheizt. Für ihn war die Luft sehr stickig und schwül. Am liebsten hätte er Durchzug gemacht, doch er wollte sich zunächst durch nichts ablenken lassen.
Er wischte statt dessen den Schweiß von seiner Stirn und setzte den Weg fort. Es war nicht weit bis zum Zimmer seiner Tochter. Die Tür war geschlossen. Er wusste, dass Silvia nie von innen abschloss. Daran hatte sie sich bestimmt auch in dieser Nacht gehalten.
Die Klinke schickte ihm ein mattes Glänzen entgegen. Es verschwand, als der Mann seine Hand darum gelegt hatte. Er drückte sie, hielt noch den Atem an und schob die Tür dann auf.
Durch zwei schräge Fenster fiel am Tag das Licht und hatte Platz genug, um sich auszubreiten. In der Nacht war es dunkel, und trotzdem konnte er die Umrisse der Fenster gut erkennen. Sie sahen aus wie gemalt, und der Blick durch die Scheiben fiel auf den Nachthimmel, der sogar sternenklar war.
Silvia lag in ihrem Bett! Schon beim Eintreten hatte der Pfarrer es bemerkt. Dazu brauchte er seine Tochter nicht erst zu sehen. Es hatte ihm gereicht, ihre Atemzüge zu hören.
Jetzt hätte er eigentlich zufrieden sein müssen. Er war es auch auf der einen Seite, auf der anderen jedoch fühlte er sich wie unter einem unerklärlichen Druck. Spannung hielt ihn im Griff.
Auch als er die Tür wieder geschlossen hatte, war nichts passiert. Seine schlafende Tochter hatte das Eintreten des Mannes nicht bemerkt. Der Pfarrer war von Geburt an ein ordentlicher Mensch. Das hatte seine Tochter nicht von ihm geerbt. Ihr Zimmer sah jedes Mal anders aus. Nicht etwa, weil sie die Möbel umgestellt hätte, nein, sie war unordentlich, und so sah er auch jetzt ihre Kleidung am Boden liegen. Zwei Stühle standen im Weg, die Lintock umgehen musste. Über einer Lehne hing ein dunkler BH.
Neben dem Bett blieb Lintock stehen und schaute auf seine Tochter nieder.
Sie lag auf dem Rücken und hatte den Kopf ein wenig zur Seite gedreht. Die Arme waren leicht zu den Seiten hin gestreckt und angewinkelt. Aus dem offenen Mund strömte der Atem. Die geschlossenen Augen gaben dem Gesicht einen entspannten Ausdruck. Die dünne Decke hatte Silvia trotz der Schwüle im Raum bis zum Hals hochgezogen. Neben ihr auf dem Nachttisch lag die sportliche Armbanduhr, deren Ziffern in einem magischen Grün leuchteten.
Der Pfarrer beugte sich über seine Tochter, um das Gesicht aus der Nähe zu betrachten. Silvia hatte die gleiche Haarfarbe wie ihre Mutter. Ein etwas schmutziges Blond, worüber sie nie begeistert gewesen war und immer davon gesprochen hatte, sich die Haare färben zu lassen.
Cliff Lintock wunderte sich darüber, welch unwichtige Dinge ihm da durch den Kopf schossen. Auch wenn das Verhältnis zu seiner Tochter in der letzten Zeit abgekühlt war, sie lag ihm trotz allem am Herzen. Er wollte, dass es ihr gut ging und sie nie in Schwierigkeiten geriet.
Der Pfarrer schaute auf das Gesicht seiner Tochter und hatte das Bild der Freundin vor Augen. Einen nackten, mit Schnitten bedeckten Oberkörper. Eigentlich ein schreckliches Bild, und jetzt stand er vor dem Bett seiner Tochter und spürte die Angst, die in ihm hoch kroch. Der Schweiß war nicht mehr zu stoppen. Er merkte, wie das Blut hinter seinen Schläfen hämmerte, und er fürchtete sich davor, ein ähnliches Bild zu sehen wie schon einmal.
Noch war Silvias Körper bedeckt.
Er schluckte. Die Hand zuckte vor. Finger berührten den Rand der Decke. Sie wollten sie anheben, aber Lintock schaffte es nicht. Er war einfach zu schwach. Er wollte alles wissen, und trotzdem fürchtete er sich vor der Wahrheit, die so grausam werden konnte.
Dann fiel ihm ein, dass es
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