Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd
sein Nervensystem.
4
V
iolet legte die Arme um ihre Mutter und zog sie an sich. Mom, klein und zerbrechlich, roch nach Lavendel und Kernseife, dem Duft von Violets Kindheit, Liebe und Wut und Traurigkeit. Stolz mengte sich hinein, Schuldgefühle und eine Spur Gift, wenn sie an Emily dachte. Die Zuckerprinzessin.
Moms roter Kater strich ihr um die Beine. Ihr Blick glitt über Moms Schulter zur Verandaeinfassung, in der zwei Sprossen fehlten. Farbe blätterte von den Wänden. Das Haus brauchte dringend eine Renovierung.
„Ich bin so froh, dass du kommen konntest.“ Moms kleine Hand tätschelte ihren Rücken. „Sicher habt ihr viel zu tun.“
Jetzt nicht mehr, nachdem sie Mister Knoblauchhähnchen hinausgeworfen hatte.
„Es geht schon.“ Ihre Finger gruben sich in Moms Strickjacke. Dann richtete sie sich auf und trat einen Schritt zurück.
„Es gibt Blaubeermuffins“, sagte ihre Mutter auf dem Weg ins Haus. „Und frische Erdbeeren. Die magst du doch so gern.“
Violet musterte das Blechgehäuse an der Wand. „Hast du die Klimaanlage reparieren lassen?“
„Es ist Ende Januar“, Moms Stimme machte deutlich, dass sie nicht darüber reden wollte, „da brauche ich sie nicht.“
Ja genau, und mit ein bisschen Glück verkaufte sie genug von ihren Perlenarmbändern und Blaubeermuffins auf Nachbarschaftsfesten, um im Sommer die Reparatur bezahlen zu können. Doch natürlich würde ihre Mutter lieber sterben, als das zuzugeben. Sie traten ins Wohnzimmer, Violet ließ sich in einen der schweren Sessel fallen. Kaffeeduft und Möbelpolitur stiegen ihr in die Nase.
„Und du hast wirklich nicht mit Emily telefoniert in letzter Zeit?“ Ihre Mutter setzte ein Tablett mit Geschirr und einer Kaffeekanne auf dem Couchtisch ab.
„Nein, Mom.“ Violet unterdrückte aufsteigenden Ärger.
„Sie hat dir Stephan nicht vorgestellt?“
„Nein.“
Für einen Moment lag ein verlorener Ausdruck auf Moms Gesicht, der Violet die Kehle zuschnürte. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Sicher war sie sehr beschäftigt. Genau wie ich.“
„Ja, aber ...“ Mom brachte den Satz nicht zu Ende.
Violet hob die Kanne vom Tablett und schenkte Kaffee in die Tassen. Metall klingelte leise gegen Porzellan.
Ihre Mutter zog eine Schachtel aus dem Bücherregal und wühlte ein Foto heraus. „Sieh mal.“ Ihre Miene hellte sich auf. „Ist das nicht wundervoll?“
Violet konnte nicht erkennen, wo das Bild aufgenommen war. Emilys Porzellanpuppengesicht mit den großen blaugrauen Augen wirkte feenhaft im weichen Licht, ihr schwarzes Haar war zu Locken gedreht. Hinter ihr stand ein Mann, der die Hände auf ihre Schultern gelegt hatte. Ein attraktiver Mittvierziger, ein Hauch Grau in den blonden Haarspitzen, der aussah, wie einer dieser Silicon-Valley-Millionäre auf den Titelseiten der Forbes. Reich geworden mit Microsoft-Aktien und nun CEO einer Fortune 500 Company. Er passte zu Emily. Emily, die ihrer Mutter unbedingt vorgaukeln wollte, dass sie ein glückliches Leben führte. Vielleicht tat sie das sogar. Vielleicht hatte sie alles, was eine Frau sich wünschen konnte. Vielleicht war das mal keiner dieser Typen, der Frauen sammelte wie Gemälde oder Sportwagen, der Emily am Wochenende mit seiner Psychotherapeutin betrog und unter der Woche mit der Sekretärin.
„Das ist Stephan.“ Stolz schwang in der Stimme ihrer Mutter.
Violet ließ das Foto sinken. „Und was macht er so?“
„Er ist Geschäftsmann.“
„Oh, toll.“ Sie nickte. „Er weiß also nicht, wo Emily steckt?“
„Er sagt, sie ist im Urlaub.“ Mom ließ sich in ihren Armsessel sinken. „Sie brauchte eine Auszeit. Sie hat hart gearbeitet und wollte sich ein paar Wochen vor der Welt verstecken.“
„Wozu dann die Aufregung?“
Moms Stimme sackte ab. „Ich versuche seit Wochen, sie anzurufen, aber sie meldet sich nicht. Und Stephan ...“ Sie zögerte. „Ich habe das Gefühl, er sagt mir nicht alles. Vielleicht haben sie sich gestritten.“ Ein wenig Häme stieg in Violet auf. Eine hässliche Empfindung, die sie unterdrückte. „Er sagt, sie ist nach Hawaii geflogen, aber er hat ihre Adresse nicht. Das würde sie doch nicht einfach so tun, wenn alles in Ordnung wäre?“
Violet stieß den Atem aus. „Mom, das ist nicht das erste Mal und es wird nicht das letzte sein. Emily ist erwachsen. Sie kann tun und lassen, was sie will. Vielleicht sucht sie nur ein paar Tage Ruhe.“
„Aber drei Wochen!“, fiel ihre Mutter ein.
„Vielleicht hat sie Mister
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