Engelsjagd - Gunschera, A: Engelsjagd
den Nacken, als er die Handschellen belastete. Seine Schultern brannten. Sie hatten ihm die Hände über dem Kopf an eine Wasserleitung gefesselt. Zuerst hatte er geglaubt, dass er das Eisenrohr aus seiner Verankerung reißen könne. Doch es brach nur der Verputz von der Decke, die Installation löste sich nicht.
„Ich frage mich, wie weit das geht?“ Carls Stimme war ein kultivierter Bariton, der zu einem Gelehrten passte und in diesem Kellerloch deplatziert wirkte. „Also, wenn man dir ein Bein abtrennen würde, wächst das dann nach?“
Etwas polterte dumpf von oben auf die Deckenplatten, mehr Staub löste sich aus den Fugen. Gabriel schloss die Lider, um seine Augen zu schützen.
„Erzähl mir etwas über den Engel.“ Carls Atem blies in seinen Nacken.
„Welcher Engel?“
„Wo versteckt er sich? Kann man mit ihm reden? Braucht man dafür einen Spezialisten in Althebräisch?“
„Was?“
Ein scharfer Schmerz riss Gabriel den Atem aus der Kehle. Er erstarrte in purer Agonie, dann senkte er den Blick auf den Dolch, den Carl ihm bis zum Heft in die Seite gerammt hatte.
„Der Engel.“ Carl ließ den Griff der Waffe los und trat zurück. Seine Umrisse verschwammen vor Gabriels Augen. „Das muss nicht so laufen. Du könntest einfach meine Fragen beantworten und wir lassen dich gehen.“
„Aber ich kann euch nicht helfen.“
Das war die Wahrheit. Er verstand nicht einmal, was sie von ihm wollten. Carl und sein Haufen verrückter Paramilitärs jagten ein Hirngespinst. Sie hatten die Mühe auf sich genommen, seiner habhaft zu werden, weil sie glaubten, dass ausgerechnet er ihnen helfen könnte. Wäre er nicht so erschöpft gewesen, zerschlagen von einer mörderischen Transformation, die kaum zehn Stunden zurücklag, es hätte ihn zum Lachen gereizt.
Ein Engel. Absurd. Selbst für jemanden wie ihn, der mit den alten Abstammungslehren aufgewachsen war, weil sein Vater unermüdlich nach einem Wissen grub, das entweder längst verloren war oder niemals existiert hatte.
Carl drehte die Klinge in der Wunde herum. Gabriels Muskeln versteiften sich unter dem Schock. „Wir können ewig so weitermachen.“ Carl ließ die Waffe los und griff nach der Wasserflasche, die er auf einem Mauervorsprung abgestellt hatte.
Leise klirrten die Kettenglieder, als Gabriel sein Gewicht verlagerte. Nachdem er einem von Carls Männern mit einem Tritt das Gesicht zertrümmert hatte, hatten sie seine Fußgelenke mit einer schweren Stahlkette an das Regal gefesselt, das die rückseitige Wand verstellte.
„Was ist so wichtig an diesem Engel?“ Carl trank einen langen Schluck aus der Flasche. Wasser glänzte in seinem Bart, als er sie absetzte. „Warum hältst du das hier aus, um ihn zu schützen?“
„Du willst es nicht begreifen“, erwiderte Gabriel schleppend. „Dein Engel ist mir gleichgültig. Ich glaube nicht einmal, dass er existiert. Und wenn ich falsch liege, Punkt für dich. Mach mit ihm, was du willst.“
„Er existiert.“ In Carls Stimme schwang Schärfe. „Ich weiß, dass er existiert.“
„Dann solltest du dich vielleicht auf die Suche nach ihm machen, anstatt deine Zeit mit mir zu verschwenden.“ Blut rann aus der Wunde in seiner Seite, ein warmes Rinnsal, das sein T-Shirt und den Bund seiner Jeans tränkte. Nicht, dass es noch einen Unterschied machte. Der Stoff war längst steif von älteren Schichten getrockneten Blutes. „Ich bin keine Hilfe für dich.“
„Natürlich bist du das.“
„Sagt wer?“
„Du kommst mit besten Empfehlungen.“ Carl wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Meine Quelle sagt, du bist der Experte, wenn es um Engel geht. Vor allem um die gefallenen. Und ihre Brut.“ Er stellte die Flasche zurück in die Nische. „Bist du ein Erstgeborener?“
Gabriel antwortete nicht. Seine Gedanken hatten zu rotieren begonnen. Schneller, immer schneller. Vater, was hast du getan?
„Unvorstellbar.“
Carls Worte verhallten in seinem Geist, bedeutungsloses Rauschen. Er verstand nun, was geschehen war.
„Hast du Babylon gesehen? Den Aufstieg und Fall der großen Hure? Hast du den Atem Gottes gespürt?“
Erst der Schmerz riss ihn zurück in die Gegenwart, eine brennende Qual. Carl hatte den Dolch gepackt und aus der Wunde gezogen. Gabriel starrte auf die blutverschmierte Klinge.
„Du wirst mir nichts vorenthalten“, knurrte Carl. „Du spürst das hier genau wie ein Mensch.“ Er stieß ihm die Klinge tief in den Leib. „Du stirbst nur nicht
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