Engelskraut
bizarre Muster zusammen. Durch diese Muster hindurch sah sie die unterschiedlichsten Menschen und immer wieder Milla. Milla lächelnd. Milla in der weißen, langärmeligen Tunika mit den Sonnenblumen. Milla im ›Affenclub‹ Gift und Galle spuckend. Milla mit den netzartigen Narben auf den Armen. Milla, die ihr den Traumtee vor die Haustür gelegt hatte.
Sie schloss die Augen, versank in einen Halbdämmer. Und wurde urplötzlich wieder hellwach. Ihr Verstand war völlig klar, dennoch hatte sie das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und von einem Strudel mitgerissen zu werden.
38
Die Ablage war fast leer, nur wenige Blätter befanden sich darin. Alles andere hatte Clarissa in unermüdlicher Kleinarbeit sortiert, gelocht und abgeheftet. Da sie ein solcher Segen für das Büro war, hatte Franca sich dafür eingesetzt, dass ihr Praktikum verlängert wurde. Sie hatte sich bereits so sehr an Clarissas Hilfe gewöhnt, dass sie sich kaum mehr vorstellen konnte, wie alles ohne ihren guten Überblick und ihren unermüdlichen Fleiß weiterlaufen sollte.
Francas Schreibtisch war wie immer übersät von Papieren, Broschüren, Faltblättern, Aktenordnern und Mappen.
Ich müsste dringend mal Ordnung machen!
Sie wusste nicht, wie oft sie diesen Satz in ihrem Leben schon gedacht hatte. Eigentlich hatte sie längst aufgegeben, Herrin über dieses Chaos werden zu wollen. Kaum hatte sie mit dem Sortieren begonnen, wurde sie durch etwas anderes unterbrochen. Und so wuchs der Berg unaufhörlich.
Oben auf dem Chaos lag aufgefaltet der Stadtplan von Koblenz. Da war der Stadtteil Pfaffendorf, der Friedhof, wo ihr Vater begraben lag, die Schule, die sie besucht hatte. Ihr Elternhaus, in dem ihre Mutter allein lebte. Da war Ludmillas Elternhaus. Und da war die Emser Straße. Keine 100 Meter entfernt, sozusagen Rücken an Rücken, lebten Monika Irlich und Alfred Mendiges, deren unverschlüsselten WLAN-Zugang Milla für ihre intriganten Spielchen benutzt hatte.
Noch immer spürte Franca ein merkwürdiges Klopfen dicht unterhalb der Schläfe. Auch die Übelkeit war noch nicht ganz vorbei. Ab und an stolperte ihr Herz, hüpfte und flatterte, ein unnatürlicher Rhythmus, der ihr bisweilen Angst einjagte.
Wieso war sie nur so blind gewesen?
Warum hatte ihr Verstand sich so lange geweigert, das Offensichtliche zu sehen? Weil es nicht sein konnte, dass ein Mensch, den sie aus Kindheitstagen kannte, zur Mörderin geworden war? Weil es nicht in ihren Kopf wollte, dass diese Frau, die sie ihre Freundin nannte, sie, ohne mit der Wimper zu zucken, beinahe umgebracht hätte?
Wie krank musste solch ein Mensch sein? Aber war Ludmilla überhaupt mit normalen Maßstäben beizukommen? Sprach nicht einiges dafür, dass sie an einer tief greifenden Persönlichkeitsstörung litt?
Zu Hause hatte Franca über vieles nachgedacht, nochmals die alten Foto- und Poesiealben hervorgeholt und darin geblättert. Das meiste sah sie jetzt mit völlig anderen Augen. Das Gesicht von Harald Rütting, Mecky, war ihr danach wieder präsent gewesen. Ein Klassenkamerad, weder gut noch schlecht in der Schule, der nicht weiter aufgefallen war. Der viel zu früh verstorben war. Und der angeblich Milla vergewaltigt hatte.
Beim Blick auf das Klassenfoto hatte sie sich aufs Neue gewundert, wie wenig die Ludmilla von damals der Milla von heute glich. Vielleicht war mit der radikalen Änderung ihres Äußeren auch eine Veränderung in ihrem Inneren einhergegangen, die Anzeichen dafür hatten sich vielleicht bereits früh angedeutet. Nur hatte es niemand bemerkt, weil sie nicht dazugehörte und keiner sich so recht für sie interessierte.
Einer dunklen Ahnung folgend, loggte sich Franca ins Archiv der regionalen Zeitung ein. Gab das Stichwort ›Harald Rütting‹ ein. Einige Seitenangaben wurden gezeigt, die sie der Reihe nach aufrief. Sie scrollte den Bildschirm entlang, bis sie die Todesanzeige fand. Gestorben im Jahr 1974 durch einen tragischen Unfall. ›Er hatte noch so viel vor.‹ Die trauernden Eltern, Geschwister und andere Verwandte.
Sie suchte weiter nach einer entsprechenden Unfallmeldung. Hier, das müsste es sein.
Jugendlicher aus Koblenz bei Unfall im Rhein
ums Leben gekommen.
Wie der Pressesprecher der Polizei mitteilte, ging am Samstagabend gegen 22.00 Uhr ein Hinweis von einem Motorschiffführer über eine in Not geratene Person im Wasser ein. Die Besatzung des eintreffenden Wasserschutzpolizeibootes fand eine leblose Person, den
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