Engelslicht
sie empfindlich waren, was ihre Missgestalt anging.
»Lass von deinen Ausflüchten ab!«, übertönte eine lautere Stimme die anderen. Der Outcast in der Robe, der Anführer dieser Szene. »In der nächsten Runde werden die Outcasts wieder sehen können. Sehen wird zu Weisheit führen, und Weisheit führt zurück durch die Pforten des Himmels. Wir werden für den Preis attraktiv sein. Sie wird uns leiten.«
Luce zitterte an Daniels Seite.
»Vielleicht können wir alle eine zweite Chance auf Erlösung bekommen«, appellierte Daniel an sie. »Wenn wir in der Lage sind, Luzifer aufzuhalten … dann gibt es keinen Grund, warum ihr nicht auch …«
»Nein!« Der Anführer stürzte sich von seinem Strebepfeiler auf Daniel und seine widerwärtigen zerfetzten Flügel breiteten sich mit einem Knacken wie ein brechender Zweig aus.
Daniel löste die Flügel von Luces Taille und drückte ihr den Heiligenschein wieder in die Hand, während er sich aus dem Wasser erhob, um sich zu verteidigen. Der Anführer in der Robe konnte es mit Daniel nicht aufnehmen, der hinaufschoss und ihm einen rechten Haken verpasste.
Der Outcast flog einige Meter rückwärts und hüpfte dabei wie ein Stein über das Wasser. Nachdem er zum Stillstand gekommen war, richtete er sich auf und kehrte an seinen Platz auf dem Strebepfeiler zurück. Mit einer Bewegung seiner bleichen Hand gab er seinen Gefährten das Zeichen, sich in einem Kreis in die Luft zu erheben.
»Ihr wisst, wer sie ist!«, rief Daniel. »Ihr wisst, was dies für uns bedeutet. Tut ausnahmsweise einmal in eurem Dasein etwas Mutiges, anstatt etwas Feiges.«
»Wie?«, fragte der Outcast herausfordernd. Wasser lief vom Saum seiner Robe.
Daniel atmete schwer und richtete den Blick auf Luce und den goldenen Heiligenschein, der im Wasser schimmerte. Seine violetten Augen wirkten für einen Moment lang panisch – und dann tat er etwas, womit Luce nie gerechnet hätte.
Er sah dem Anführer der Outcasts tief in seine toten weißen Augen, streckte die Hand aus und sagte: »Schließt euch uns an.«
Der Outcast stieß ein düsteres Lachen aus.
Daniel zuckte mit keiner Wimper.
»Die Outcasts arbeiten für niemanden als für sich selbst.«
»Das hast du klargemacht. Niemand verlangt von euch, euch zu binden. Aber arbeitet nicht gegen die einzige richtige Sache. Ergreift diese Chance, alle zu retten, euch selbst eingeschlossen. Schließt euch unserem Kampf gegen Luzifer an.«
»Das ist ein Trick!«, rief eins der Outcastmädchen.
»Er versucht, dich zu täuschen, um seine Freiheit zu gewinnen.«
»Nehmt das Mädchen!«
Luce schaute entsetzt den Outcast an, der über ihr aufragte. Er kam näher, seine Augen weiteten sich hungrig, und seine weißen Hände zitterten, als sie sich nach ihr ausstreckten. Näher. Noch näher. Sie schrie …
Aber niemand hörte es, denn in diesem Moment kräuselte sich die Welt. Die Luft und das Licht und jedes Teilchen in der Atmosphäre schienen sich zu verdoppeln und zu teilen, um dann mit einem Donnerschlag in sich zusammenzufallen.
Es geschah wieder.
Durch den Wald beiger Trenchcoats und schmutziger Flügel hatte der Himmel ein fahles, versmogtes Grau angenommen, wie beim letzten Mal in der Bibliothek der Sword & Cross, als alles schon einmal erzittert war. Ein weiteres Zeitbeben. Luzifer kommt näher.
Eine gewaltige Welle brach über Luces Kopf zusammen. Sie ruderte mit einem Arm, umklammerte den Heiligenschein mit dem anderen und trat hektisch mit den Beinen, um den Kopf über Wasser zu halten.
Sie sah Daniels Gesicht, als zu ihrer Linken ein gewaltiges Knarren erklang. Seine weißen Flügel schwebten auf sie zu, aber nicht schnell genug.
Das Letzte, was Luce sah, ehe ihr Kopf unter Wasser geriet, schien sich in Zeitlupe abzuspielen: Der grüngraue Kirchturm kippte und neigte sich ganz sachte auf ihren Kopf zu. Sein Schatten wuchs, bis er sie mit einem gewaltigen Aufschlag in die Dunkelheit riss.
Als Luce erwachte, hob und senkte sie sich auf einer Welle: Sie lag auf einem Wasserbett.
Die Fenster waren mit roten Spitzengardinen verhängt. Graues Licht, das durch die kunstvolle Spitze fiel, ließ vermuten, dass draußen der Abend dämmerte. Luce verspürte einen pochenden Schmerz in ihrem Kopf und ihrem Knöchel. Sie rollte sich in den schwarzen Seidenlaken herum – und fand sich einem Mädchen mit verschlafenem Blick und einer gewaltigen blonden Mähne gegenüber.
Das Mädchen stöhnte und zuckte mit silbergeschminkten Lidern, während es
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