Engelslicht
ganz durch das Fenster.
Sie hatte den Heiligenschein. Sie war frei.
Aber sie hatte nicht mehr genug Luft in den Lungen, um es bis nach oben zu schaffen. Sie zitterte heftig, ihre Beine reagierten kaum noch auf ihre Befehle und ihr tanzten schwarzrote Punkte vor Augen. Sie fühlte sich dumpf, als schwimme sie durch nassen Zement.
Dann geschah etwas Erstaunliches: Das dunkle Wasser um sie herum erhellte sich in einem schimmernden Leuchten, und sie fand sich in Wärme und Licht wie in einer Sommerdämmerung gehüllt.
Eine Hand erschien und streckte sich nach ihr aus.
Daniel. Luce schob die Finger in seine starke, breite Hand und drückte den Heiligenschein fest an die Brust.
Sie schloss die Augen und flog mit Daniel durch den Unterwasserhimmmel nach oben.
Eine Sekunde schien zu verstreichen, dann brachen sie durch die Oberfläche in blendend helles Sonnenlicht. Instinktiv sog Luce so viel Luft in ihre Lungen, wie sie konnte, und erschreckte sich selbst über ihr raues Stöhnen, während sie mit der anderen die Schwimmbrille abriss.
Aber – es war merkwürdig. Ihr Körper schien nicht so viel Luft zu brauchen, wie ihr Verstand es ihr sagte. Ihr war schwindelig, sie war von dem plötzlichen Sonnenlicht wie benommen, aber seltsamerweise drohte ihr keine Ohnmacht. War sie doch nicht so lange dort unten gewesen, wie sie gedacht hatte? Konnte sie plötzlich viel länger die Luft anhalten? Ein sportlicher Stolz gesellte sich zu ihrer Erleichterung darüber, überlebt zu haben.
Daniel fand unter Wasser ihre Hände. »Geht es dir gut?«
»Was ist mit dir passiert?«, rief sie. »Ich wäre beinahe …«
»Luce«, warnte er. »Still.«
Er strich ihr mit den Fingern über die Hand und nahm ihr wortlos den Heiligenschein ab. Ihr wurde erst bewusst, wie schwer das Ding war, als sie es nicht mehr trug. Aber warum verhielt Daniel sich so seltsam und nahm ihr den Heiligenschein so verstohlen ab, als hätte er etwas zu verbergen?
Luce brauchte nur dem Blick seiner dunklen violetten Augen zu folgen.
Sie waren nicht an der Stelle herausgekommen, an der sie abgetaucht waren. Vorher, so wurde Luce klar, hatten sie die versunkene Kathedrale von vorne gesehen – nur die beiden grüngrauen Spitzen, die von den untergegangenen Türmen aufragten –, aber jetzt waren sie fast genau über der Mitte der Kirche, wo früher das Langhaus gewesen war.
Sie wurden von zwei langen Reihen von Strebepfeilern flankiert, die einst die nun zerfallenden Steinmauern des langen Kirchenschiffes gehalten hatten. Die Strebebögen waren schwarz vor Moos und nicht annähernd so hoch wie die Türme der Fassade. Ihre Steinschrägen brachen durch die Wasseroberfläche – was sie zu perfekten Bänken für die Gruppe von gut zwanzig Outcasts machten, die Luce und Daniel umgaben.
Als Luce sie erkannte – braune Trenchcoats, bleiche Haut, tote Augen –, unterdrückte sie einen Aufschrei.
»Hallo«, sagte einer.
Es war nicht Phil, der schmierige Outcast, der sich als Shelbys Freund ausgegeben hatte und dann im Garten von Luces Eltern den Kampf gegen die Engel angeführt hatte. Ihn konnte sie nicht entdecken. Luce sah nur eine Truppe ausdrucksloser und gleichgültiger Wesen, die sie nicht kannte und die sie auch nicht kennenlernen wollte.
Als gefallene Engel, die sich nicht entscheiden konnten, waren die Outcasts in mancher Hinsicht das Gegenteil von Daniel, der sich geweigert hatte, sich auf eine andere Seite als die von Luce zu stellen. Vom Himmel wegen ihrer Unentschlossenheit gemieden, von der Hölle gegenüber allem außer dem schwächsten Schein der Seelen mit Blindheit geschlagen, boten die Outcasts das Bild einer Versammlung, von dem einem übel werden konnte. Sie starrten Luce genauso an wie beim letzten Mal, mit schauerlich leeren Augen, die ihren Körper zwar nicht sehen konnten, doch etwas in ihrer Seele spürten, das ihnen sagte, sie sei »der Preis«.
Luce fühlte sich ungeschützt, in der Falle. Das Grinsen der Outcasts machte das Wasser kälter. Daniel schwamm näher an sie heran und sie spürte etwas Glattes an ihrem Rücken. Er hatte im Wasser seine Flügel entfaltet.
»Ein Fluchtversuch würde euch schlecht bekommen«, dröhnte ein Outcast hinter Luce, als spüre er die Regung von Daniels Flügeln unter Wasser. »Ein Blick hinter euch sollte euch von unserer zahlenmäßigen Überlegenheit überzeugen und hiervon genügt ein einziger.« Er öffnete den Trenchcoat, um einen Köcher mit silbernen Sternenpfeilen zu enthüllen.
Die
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