Engelslicht
panischer Furcht zusammen. Annabelle hielt sie zurück, während Arriane ein Schweizer Armeemesser aus ihrer Tasche aufklappen ließ – das rosafarbene, dasselbe, das Luce benutzt hatte, um dem Mädchen vor Monaten die Haare zu schneiden – und sägte an den Seilen, die Gabbe auf dem Altar festhielten.
»Hört auf, oder ich werde ihn töten!«, rief Sophia den Engeln zu, während sie eine Faust voller Pfeile herauszog und auf Cam sprang. Sie setzte sich rittlings auf ihn und hob die silbernen Schäfte über seinen Kopf.
Sein dunkles Haar war verfilzt und fettig. Seine Hände waren bleich und zitterten. Miss Sophia betrachtete diese Einzelheiten mit einem Feixen.
»Ich liebe es ja so sehr, einen Engel sterben zu sehen.« Sie gackerte und hielt die Sternenpfeile hoch. »Und noch dazu so einen arroganten.« Sie schaute wieder auf Cam hinab. »Sein Tod wird ein schöner Anblick sein.«
»Nur zu.« Cams Stimme erklang zum ersten Mal, leise und gleichmäßig. Luce schrie beinahe auf, als sie ihn murmeln hörte: »Ich habe nie um ein Happy End gebeten.«
Luce hatte beobachtet, wie Sophia Penn mit bloßen Händen und ohne Reue getötet hatte. Es würde nicht wieder geschehen. »Nein!«, rief Luce und kämpfte gegen Daniels Griff an, sodass sie ihn mit sich in die Kapelle zerrte.
Langsam drehte Miss Sophia sich herum, die Sternenpfeile in der Faust umklammernd. Ihre Augen glänzten silbern und ihre dünnen Lippen verzogen sich zu einem schauerlichen Lächeln.
»Wir müssen sie aufhalten, Daniel!«
»Nein, Luce, es ist zu gefährlich.«
»Oh, da bist du ja, Liebes.« Miss Sophia strahlte. »Und Daniel Grigori! Wie nett. Ich habe auf euch gewartet.« Dann zwinkerte sie und schwang das dichte Bündel Sternenpfeile über ihrem Kopf und zielte direkt auf Daniel und Luce.
Zwölf
Ungeweihtes Wasser
Es geschah in dem gebrochenen Bruchteil einer Sekunde: Roland griff Miss Sophia an und warf sie zu Boden. Aber er kam einen halben Herzschlag zu spät.
Fünf silberne Sternenpfeile segelten lautlos durch den leeren Raum der Kapelle. Ihr Bündel löste sich im Flug und schien für einen Moment auf dem Weg zu Daniel und Luce in der Luft zu hängen.
Daniel.
Luce drückte sich wieder an seine Brust. Daniel hatte den entgegengesetzten Instinkt: Er zog sie fest an sich und riss sie hart zu Boden.
Zwei gewaltige Flügelpaare tauchten unvermittelt von rechts und von links auf und kreuzten sich vor Luce. Ein Paar war von einem strahlenden Kupfergold, das andere von reinstem silbrigem Weiß. Sie füllten den Raum vor ihr und Daniel wie riesige, gefiederte Wandschirme – und dann waren sie in einem Wimpernschlag fort.
Etwas zischte Luce am linken Ohr vorbei. Sie drehte sich um und sah einen einzelnen Sternenpfeil von der grauen Steinmauer abprallen und zu Boden klappern. Die anderen Sternenpfeile waren verschwunden.
Ein feiner schimmernder Sand rieselte rings um Luce zu Boden.
Sie blinzelte durch den Nebel aus Staub. Daniel hockte neben ihr. Eine erregte Dee kämpfte auf einer sich windenden Miss Sophia. Annabelle stand über den anderen Ältesten, die leblos am Boden lagen. Arriane hielt ein leeres Stück Seil und ihr Schweizer Armeemesser in den zitternden Händen. Cam, noch immer auf dem Altar gefesselt, war benommen.
Gabbe und Molly, gerade von ihren Altären von Arriane befreit …
Verschwunden.
Und Luce und Daniel waren mit einer Staubschicht bedeckt.
Nein.
»Gabbe … Molly …« Luce erhob sich auf die Knie. Sie streckte die Hände aus und untersuchte sie, als hätte sie noch nie zuvor Hände gesehen. Kerzenlicht brach sich auf ihrer Haut und gab dem Staub einen sanften schimmrigen Goldton, der sich wiederum zu einem leuchtenden, glitzernden Silber wandelte, als sie die Hände umdrehte, um die Innenflächen zu betrachten. »Nein nein nein nein nein nein nein nein.«
Sie schaute zurück und begegnete Daniels Blick. Sein Gesicht war aschfahl, und seine Augen brannten in einem solch konzentrierten Violett, dass es schwer war, hineinzuschauen.
Das wurde noch schwerer, als Tränen ihr die Sicht nahmen.
»Warum haben sie …?«
Für einen Moment war alles still.
Dann zerriss ein animalisches Brüllen den Raum.
Cam zerrte sein rechtes Bein mit Gewalt aus den Seilen, die es gefesselt hatten, und riss sich dabei den Knöchel auf. Mit äußerster Anstrengung versuchte er, seine Handgelenke zu befreien und brüllte, als er die rechte Hand aus den Fesseln löste und dabei seinen Flügel zerfetzte, der von einem
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