Engelslied
Mutter. Und wir können nicht auf demselben Gebiet koexistieren, jedenfalls nicht für längere Zeit.« Deswegen trennten große Wassermengen oder riesige Landstriche die einzelnen Mitglieder des Kaders voneinander. Sie alle verfügten über zu große Kraft, um einander langfristig nahe sein zu können.
Bei dieser Regel gab es, soweit bekannt, nur zwei Ausnahmen: Schwangerschaft und Liebe. Hätte Michaela wirklich ein Kind erwartet, dann hätte Raphael sie bei sich aufnehmen können, denn mit jeder Schwangerschaft ging eine Verletzlichkeit einher, die die Auswirkungen der Erzengelkräfte dämpfte. Caliane und Nadiel hatten sich in ihrer tiefen Liebe gegenseitig gestärkt, nicht gefährdet. Michaela und Uram wiederum hatten nie zusammengelebt, ihre Affäre hatte sich im steten Wechselspiel von Nähe und Distanz abgespielt, wobei die Trennungen manchmal wochenlang gedauert hatten.
Ein erwachsenes Kind stellte keine Ausnahme von der Regel dar. »Letztendlich würde ich mich irgendwann von dir bedroht fühlen und umgekehrt genauso. Dann würden wir uns alle Mühe geben, einander nicht umzubringen, obwohl unsere Instinkte uns dazu raten, und das würde uns in den Wahnsinn treiben.« So war es in der Geschichte der Engel nachzulesen. »Du musst dieses Territorium bewahren und halten, Mutter.«
»Ich könnte hinüberwechseln und Lijuans Festung zerstören, wenn sie fort ist, und ihr Territorium übernehmen.«
»Ihre Festung liegt tief im Herzen ihres Gebietes, und du bist mit nur zwei Schwadronen in den Schlaf gegangen.« Das waren starke und sehr gut ausgebildete Männer und Frauen, aber eben doch nur sehr wenige. »Sobald du in ihr Territorium einfliegst, schicken ihre Kommandanten Schwadronen, um Amanat zu zerstören. Bei allem, was du vorhast, musst du immer sämtliche möglichen Auswirkungen bedenken.«
Caliane wandte sich mit raschelnden Flügeln zu ihm um, einen weichen, irgendwie graueren Ausdruck in den Augen. »Und wann hast du aufgehört, ein Junge zu sein? Wann wurdest du zu einem Mann, der sich so perfekt mit Macht und Politik auskennt?«
»Es war doch immer klar, dass ich zu solch einem Mann heranwachsen würde.« Das Kind zweier Erzengel, von denen einer uralt war, hatte in dieser Frage wenig Wahl, jede einzelne Zelle seines Körpers war durch und durch erfüllt mit Macht.
Als Antwort breitete sie die Flügel aus und trat vom Dach, um sich geräuschlos in die darunter liegende Straße fallen zu lassen. »Geh mit mir durch meine Stadt«, bat sie Raphael, als dieser ihr folgte. »Und erzähle mir von deiner törichten, aber mutigen Gemahlin.«
Zum ersten Mal erkannte sie Elena als seine Gemahlin an, ohne von ihm dazu gedrängt worden zu sein. »Erst sagst du mir, wie du dich in Bezug auf den kommenden Krieg entschieden hast.«
»Du hast ja recht. In allem, was du gesagt hast. Ich kann es mir nicht erlauben, aus Liebe zu meinem Sohn meine Augen vor dessen guten Argumenten zu verschließen.« Zarte Finger streichelten seine Wangen. »Nur versage du nicht, Raphael. Ich habe meinen Gemahl überleben müssen, meinen Sohn kann ich nicht auch noch überleben.«
Aber Raphael durfte ihr nichts versprechen, was er vielleicht nicht würde halten können. »Sollte ich fallen, dann bist du die Einzige, die Lijuan noch besiegen könnte. Diese Verantwortung kannst du nicht einfach leugnen.«
»Ach ja?« Caliane klang kühl, fast schon arrogant. »Dann maßt du dir also an, für einen anderen Erzengel Entscheidungen zu treffen?«
Raphael lachte, während die nächtlichen Winde mit den Falten im schlichten, weißen Gewand seiner Mutter spielten. »Herrscher zu sein habe ich gelernt, indem ich dir zusah!«
Diese Bemerkung trug ihm einen strengen mütterlichen Blick ein. »Dieses Lachen! Damit hast du mich immer schon um den Finger wickeln können.« Mit einem leisen Seufzer führte sie ihn in einen ummauerten, sehr privaten Garten, den sie für ihre Damen angelegt hatte. Um den Garten herum ragten Tempel mit wild wuchernden Balkonen auf, deren Blumen ein Potpourri an Düften verbreiteten. »Deine Elena hat kein Gefühl für ihre Sterblichkeit.«
»Sie ist Kriegerin.« Eine Kriegerin mit einem menschlichen Herzen. »Furcht ist für sie ein Werkzeug, wie für alle anderen Krieger auch. Sie nutzt sie zum eigenen Vorteil.«
»Tasha ist Gelehrte und begnadete Kriegerin zugleich. Und doch berichten mir Avi und Jelena, ihr beiden hättet euch nach einem einzigen Sommer getrennt. Sie hätte die perfekte Gemahlin für dich
Weitere Kostenlose Bücher