Engelslied
Wirbel und Kreise der Tätowierungen in Jasons Gesicht waren im schwachen Licht kaum erkennbar. »Inzwischen jedoch hält sie sich selbst für eine richtige Göttin. Und sie denkt, sie sei etwas Besseres als die anderen im Kader. Die anderen stehen ihrer Meinung nach unter ihr, sind weniger wert als sie.«
»Auch Caliane?«
»Was sie von der Uralten hält, weiß man noch nicht. Mein Instinkt sagt mir aber, sie hat vor, Ihre Mutter einfach nicht zu beachten, bis sie glaubt, ihre Kraft reicht für eine direkte Konfrontation, bei der sie Caliane in einem einzigen Gefecht töten kann. Obwohl die Frage nach Caliane natürlich sehr wichtig ist. Denn sollte Amanat irgendwann einmal ungeschützt sein, weil Caliane ihre Truppen verlegt, dann würde Lijuan sofort und gnadenlos zuschlagen.«
Raphael nickte. »Es geht gegen mich, weil ich sie verletzen kann und das nicht mit ihrer Wahnvorstellung von einem Gottsein übereinstimmt.« Damit schwanden dann allerdings auch die letzten Hoffnungen auf eine friedliche Beilegung des Konflikts. »Ihre Offensivkräfte?«
»Stehen kurz davor, ihr Gebiet zu verlassen. Wenn sie moderne Methoden und den Transport auf Flügeln gleichermaßen einsetzt, um sie hierherzuschaffen, dürften sie innerhalb der nächsten vier oder fünf Tage zum Zuschlagen bereit sein.«
»Ich glaube, es wird Zeit, Naasir zurückzubeordern.« Solange Amanat unter dem Energieschild in Sicherheit war, würde seine Mutter den Vampir nicht brauchen, und Naasir kämpfte am Boden wie ein Berserker. Dazu kamen noch seine eher verborgenen Talente, von denen jetzt, wo so viele geflügelte Kämpfer ausfielen, jedes einzelne gebraucht wurde. »Offen bleibt, ob ich auch Galen und die Schwadron aus der Zufluchtsstätte herbeordern soll.« Sein Waffenmeister war äußerst gefährlich und ein Gewinn in jedem bewaffneten Konflikt. Aber wenn er nach New York kam, musste Venom ganz allein Raphaels Festung in der Zuflucht bewachen.
»Eigentlich ist die Zufluchtsstätte in Kriegszeiten tabu, aber wenn Lijuan sich für eine Göttin hält, findet sie womöglich, sie brauche sich nicht mehr an die Regeln zu halten«, gab Jason zu bedenken.
»Du hast recht.« Lijuan und Charisemnon stellten ja unter Umständen auch nicht die einzige Bedrohung dar: Jeder Erzengel hatte in der Zufluchtsstätte Truppen. Und wenn Raphael Galen und seine Schwadron abzog, würde seine Festung allzu leicht zum verführerischen Angriffsziel. Nicht nur das: Die Bewohner, die sich auf ihn verließen, könnten sich durch einen solchen Truppenabzug von ihm im Stich gelassen fühlen, während andere die Aktion wiederum als Zeichen seiner Schwäche deuten könnten. Falls die Festung dem Gegner in die Hände fiel, würde das die Moral seiner Truppe im Turm zerstören, denn viele hatten ihre Familien hinter den Mauern der Festung untergebracht.
Nein – Galen, Venom und die Schwadron mussten bleiben, um einen möglichen Angriff innerhalb der Zufluchtsstätte abwehren zu können. Durch die Kommunikationswege zwischen Turm und Festung konnte Raphael sich aus der Ferne Zugang zu Galens Kriegerbewusstsein verschaffen und auch mit dem listenreichen Venom Verbindung halten.
Jason, Naasir, Illium, Dmitri und Aodhan – eine beeindruckende Truppe. Jeder von ihnen würde mit der Wildheit und Durchschlagskraft von tausend gewöhnlichen Streitern kämpfen. Aber auch Lijuan hatte kampffähige Männer und Frauen an ihrer Seite, worauf Raphael selbst Elena erst vor Kurzem noch hingewiesen hatte. Wenn sie die nicht nur zahlenmäßige Überlegenheit des Gegners ausgleichen wollten, mussten Raphaels Truppen vor allem schlau und geschickt sein. Sonst waren sie selbst mit der von Elias zugesagten Unterstützung von Anfang an unterlegen.
Darüber würde er auch mit Jason reden müssen, aber vielleicht nicht gerade heute Nacht.
»Geh zu deiner Prinzessin«, sagte der Erzengel. »Alles Weitere besprechen wir im Morgengrauen.«
Noch während Jason davonflog, spürte Raphael, wie sich die Tür in seinem Rücken öffnete und drehte sich mit weit geöffneten Armen um. Eine verschlafene Elena trat in seine Umarmung, kühl kitzelte der Satin ihres Morgenrocks seine Haut. »Was ist mit Jason?«, fragte sie.
Er hüllte sie in seine Flügel, um sie vor der Kälte zu bewahren. »Er brachte die Nachricht, die wir schon erwartet hatten.«
Sie wurde mit einem Schlag hellwach, als er zusammenfasste, was Jason ihm berichtet hatte. »Ich weiß, dieser Kampf ist ein Kampf zwischen Unsterblichen«,
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