Engelslied
den winzigen Körper zu umarmen. In der linken Hand des Kleinen steckte der Zugang für einen Tropf, der auf der zarten Haut viel zu groß und hart wirkte. »Ja!« Hoffentlich würde sie noch am Leben sein, um dieses Versprechen zu halten. »Sobald wir gegen die bösen Leute gekämpft haben, komme ich dich besuchen.«
Dann übergab sie den Jungen der Fürsorge einer wartenden Krankenschwester und flog zurück, um das nächste Kind zu holen. Krankentransporter und Hubschrauber waren den Patienten vorbehalten, die ohne medizinische Geräte an ihrer Seite nicht transportiert werden konnten. An dieser Aktion waren alle beteiligt, Turm, Gilde, Polizei und Geschäftsleute, die ihre Privatfahrzeuge und Hubschrauber zur Verfügung gestellt hatten. Ältere Menschen und andere, die sich nicht allein fortbewegen konnten, wurden von Jägern gefahren.
Die meisten der Evakuierten hatten Freunde oder Familie, bei denen sie unterkommen konnten, andere wurden von hilfsbereiten Fremden in den umliegenden Bezirken aufgenommen. Wer privat keinen Unterschlupf fand, wurde in den Notunterkünften untergebracht, die in Zusammenarbeit mit dem Turm auf Grundstücken eingerichtet worden waren, die dem Turm gehörten. Diese Unterkünfte mochten zwar nicht ganz so komfortabel sein wie richtige Wohnungen, waren aber durchaus gemütlich. Das alles war lange vor Bekanntgabe der Evakuierung arrangiert worden, was allerhand über die präzise Vorbereitung der ganzen Operation aussagte.
Noch nie in ihrem Leben hatte Elena eine Evakuierung erlebt, die so rasch und problemlos über die Bühne gegangen war. Aber hier handelte es sich ja auch um die Evakuierung eines gesunden, unzerstörten Stadtteils in umliegende ebenfalls unzerstörte Bezirke. Es hatte keine Naturkatastrophe gegeben, bei der Versorgungsleitungen und Straßen zerstört worden waren, und auch die Verwaltung der Stadt arbeitete unversehrt, da es keine Arbeitsausfälle gegeben hatte.
Achtundvierzig Stunden nach Beginn der Aktion war Manhattan zu einer Geisterstadt geworden.
Elena spürte ein leichtes Frösteln ihren Rücken hinunterkriechen, als sie über die leeren Straßen flog, in denen nur hier und da ein Stück Papier vom Wind durch die Gegend gewirbelt wurde. Einmal sah auch ein einsamer Hund zu ihr hoch. Das hier war das Herz ihrer Stadt, hier hätte es laut sein müssen, voller Menschen, Verkehr, Bewegung. Zu glauben, dass sie jeden einzelnen Sterblichen evakuiert hatten, war eine Illusion. Man durfte ziemlich sicher davon ausgehen, dass ein paar unternehmungslustige Seelen es geschafft hatten, dem Massenexodus zu entgehen, aber die versteckten sich jetzt natürlich. Die Straßenlandschaft unter Elena dehnte sich leer und öde aus.
Da sie den Gedanken an einen verlassenen, stillen Times Square nicht ertragen konnte, beschloss Elena, nicht dorthin zu fliegen, sondern stattdessen auf einem der Stützpunkte für die Luftverteidigung zu landen, auf denen die Geschosse zur Abwehr geflügelter Angreifer bereitstanden. Auch Dmitri hatte diesen Stützpunkt aufgesucht und unterhielt sich gerade mit zwei Vampiren, die als Experten für den Einsatz dieser Waffen galten.
Raphaels Stellvertreter hatte sich während seiner Abwesenheit von New York nicht verändert. Er war und blieb ein gefährlich verführerisches Wesen, das immer auch etwas von tödlicher Gewaltbereitschaft ausstrahlte. Aber er war mit seiner Frau zurückgekehrt, einer Jägerin, die jetzt als Teil des neu zusammengestellten Teams aus Turm und Gilde bei der Verteidigung der Stadt mitwirkte. Honor war als Vampirin noch nicht zu ihrer vollen Stärke herangereift, aber auch kein gewöhnlicher Grünschnabel mehr. Ein zarter Goldhauch lag auf ihrer Haut, ihre Augen leuchteten grün wie edle Juwelen. Die Unsterblichkeit brachte Honor zum Strahlen, sie war umwerfend schön.
Sie hatte gelacht, als Elena bei ihrer ersten Begegnung nach der Transformation vor Staunen fast die Augen aus dem Kopf gefallen wären. »Ich weiß, ich weiß! Für mich war es auch ein ziemlicher Schock.« Als sie lächelte, war sie wieder ganz die Honor, die Elena kannte. »Hey, ich wurde von einem Erzengel erschaffen und trinke ausschließlich bei einem tausend Jahre alten sexy Vampir, was hast du denn gedacht?«
»Ist es seltsam?« Elena hatte die Frage nur stellen können, weil Honor eine gute Freundin war. »Das Bluttrinken, meine ich.«
In Honors honiggoldene Wangen hatte sich ein faszinierender rosa Schimmer geschlichen. »Oh! Hm …
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