Engelslied
können.
Dann war ein Erzengel gekommen, faszinierend und schön und so gefährlich wie die wilden Winde über der von einem Gewitter aufgewühlten See. »Man vermeidet ja nicht nur Verletzungen, wenn man Bindungen scheut«, fuhr sie fort, denn sie wollte diesem in seiner Einsamkeit so schwermütigen Engel zu gern vermitteln, was sie selbst in zwei Jahrzehnten Alleinsein mühsam gelernt hatte. »Es entgeht einem ja auch die Freude, die man nur erfährt, wenn man sein Herz weit öffnet und sich einfach fallen lässt, komme, was wolle.«
Aodhan schwieg, dachte nach. Als er endlich sprach, waren seine Worte wie Kiesel, die in den friedlichen Spiegel eines still ruhenden Sees fielen: »Haben Sie denn keine Angst?«
»Schreckliche Angst!«, gestand sie unumwunden. Gerade erst an diesem Morgen hatte sie sich wieder einmal so verletzlich gefühlt, hatte unter den Stichen leiden müssen, die ihr diese Verletzlichkeit jedes Mal zufügte. »Aber ich sage Ihnen: zum Teufel mit der Angst, sie wird mir nicht das Leben rauben, das erlaube ich nicht. Und Sie sollten das auch nicht zulassen.« Nein – sie wusste nicht, durch welche Hölle Aodhan gegangen war, um so zu werden, wie er war. Aber sie hatte ihre eigene Hölle durchwandert, wusste aus erster Hand um den Käfig, in den einen solch schreckliche Erlebnisse sperren konnten. »Fliegen Sie schnell und hart, Aodhan. Sie wissen nie, was Sie zu sehen bekommen. Was wäre denn eigentlich das Schlimmste, was Ihnen zustoßen könnte?«
Aodhans Antwort kam leise, kündete von Blut und Tränen. »Ich könnte mit gebrochenen Flügeln auf die Erde stürzen, mein Körper nur noch Brei sein.«
»Aber bis dahin? Denken Sie an alles, was Sie bis dahin erleben könnten. Und fragen Sie sich, ob Sicherheit wirklich alles ist, wovon Sie träumen, ob Sie nichts anderes kennenlernen möchten.«
Als Aodhan daraufhin nicht antwortete, überließ sie ihn seinen Gedanken, um in den Turm zurückzugehen. Sie wollte zu den streng bewachten Stockwerken, in denen die verwundeten Engel untergebracht waren. Im ersten dieser Stockwerke angekommen, musste sie feststellen, dass die meisten Verwundeten noch in dem heilenden Koma verweilten, in das Keir sie versetzt hatte. Aber die Gesichter all derer, die bei Bewusstsein waren, leuchteten bei ihrem Anblick freudig auf.
Sie nannten sie »Gemahlin«, fragten nach Neuigkeiten über ihre Schwadronen, wollten wissen, was in der Stadt so passierte, und entschuldigten sich, weil sie nicht in der Lage waren, sich von ihren Betten zu erheben, um sie angemessen zu begrüßen. Mit vielen der Kämpfer aus der Verteidigungstruppe des Turms hatte Elena jetzt zum ersten Mal direkten, persönlichen Kontakt. Es beschämte sie, wie geehrt sich die Männer und Frauen durch den Besuch der Gemahlin ihres Fürsten fühlten.
Manche Antwort auf ihre Fragen verstand sie kaum und war dankbar, dass sie Keir leise flüsternd für sie wiederholte. Sie beschloss, erst einmal zu bleiben. In den folgenden Stunden, in denen sie sich mit allen Verwundeten unterhielt, die dazu in der Lage waren, verstand sie, dass auch dies zu der Verantwortung der Frau an Raphaels Seite gehörte. Was Macht und Stärke betraf, war sie zweifellos der schwächste Engel hier, aber die Männer und Frauen brauchten etwas anderes von ihr, sahen etwas anderes in
ihr.
»Tief Luft holen«, riet ihr Keir leise, als sie den ersten Saal verließen. Elena hatte sich gerade noch die brutalen Verletzungen eines dunkeläugigen Engels angesehen, der ihr stolz das Schwert gezeigt hatte, das ihm von Galen höchstpersönlich überreicht worden war. Solch ein Schwert erhielt nur, wer durch seine Kunstfertigkeit den Respekt des Waffenmeisters errungen hatte. Nun bestand der linke Flügel dieses Engels nur noch aus nackten Sehnen, die Knochen seines Gesichts waren auf der einen Seite vollständig zerschmettert, und auf derselben Seite fehlte ihm der Arm. Vollständig: Er war ihm an der Schulter abgetrennt worden.
Gehorsam stützte Elena die Hände auf die Knie, um tief und zitternd Luft zu holen. »Wird er wieder gesund?«, wollte sie wissen, sobald sie wieder sprechen konnte.
»Ja, aber die Genesung wird etliche Monate in Anspruch nehmen und die ganze Zeit über sehr schmerzhaft sein.« Eine sanfte Hand strich ihr über das Haar, die Berührung eines Heilers. »Und? Hast du in den vergangenen Stunden herausgefunden, warum die Leute so auf dich reagieren?«
Elena richtete sich auf, hatte einen dicken Kloß im Hals. Sie
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