Engelslied
Goldstrichen durchsetzter Alabaster, sein Haar fast farblos blass – und doch so hell, dass es aussah, als sei jede einzelne Strähne in Diamantenstaub getaucht. Auch seine Flügel spiegelten diese Illusion von Licht wider, blendeten im Sonnenlicht stärker, als ein menschliches Auge es ertragen konnte. Seine Schönheit glich einer scharfen Klinge, die schneiden, die wehtun konnte. Trotz Illiums tiefblauer Flügel und Venoms Vipernaugen war Aodhan unter Raphaels Sieben derjenige, der am stärksten »anders« war.
Außerdem war er der Zurückhaltendste der Gruppe, einer, dessen nicht sichtbare Narben ihn jeden Köperkontakt meiden ließen. Elena konnte sich ein Leben ohne Berührungen nicht vorstellen, aber Aodhan lebte schon seit einer Ewigkeit ohne diese einfache und doch so notwendige Verbundenheit mit anderen. Was ihn so nachhaltig verwundet hatte, musste zutiefst bösartig gewesen sein. Aber fragen würde sie ihn nicht danach. Es war an Aodhan, ihr die Geschichte zu erzählen, und bisher hatte er es noch nicht getan.
»Wie gefällt Ihnen New York?«, erkundigte sie sich jetzt.
Er ging mit ihr hinaus auf den Balkon, wo sie beide dicht an die Kante traten, um auf die Stadt hinunterzusehen. »Das kann ich noch nicht so genau sagen.« Er schien sich auf die gelben Taxis zu konzentrieren, die in einem nicht enden wollenden Strom tief unten durch die Straßen glitten. Seine Flügel glitzerten im Sonnenlicht. »Ich habe einen solchen Ort bisher noch nicht gesehen. Die Domäne des Sire war ganz anders, als ich das letzte Mal hier stationiert war.«
Dann war Aodhan also früher schon einmal im Turm stationiert gewesen? Das hatte Elena nicht gewusst. Aber er war immerhin schon fast fünfhundert Jahre alt, eigentlich war es nur logisch, dass er hier schon einmal Dienst getan hatte. »Einmalig ist diese Stadt auf jeden Fall.« Sie selbst liebte die Energie von New York, das Chaos, aber das war, wie sie wusste, nicht jedermanns Sache. Allerdings hatte Aodhan selbst um die Versetzung hierher gebeten, nachdem er Jahrhunderte lang in Raphaels Zufluchtsstätte gelebt hatte. Irgendetwas schien ihn doch in dieser Stadt anzuziehen.
»Die meisten Leute wissen immer noch nicht, dass Sie hier sind.« Elena hatte fest mit einem Aufruhr bei Aodhans Ankunft gerechnet und war überrascht gewesen, als er ausblieb. Bis sie entdeckt hatte, warum: Er flog nie in einer Höhe, in der ihn ein menschliches Auge hätte entdecken können. Wer bemerkte, dass das Licht kurz einmal brach, wenn er unter die Wolkendecke fiel – was sehr selten geschah –, ging von einer ungewöhnlichen Lichtspiegelung aus oder vermutete eine besonders helle Reflektion des Metallkörpers eines vorbeifliegenden Flugzeugs.
»Illium tanzt gern mit der Welt. Ich ziehe es vor, sie zu beobachten.«
»Möchten Sie die Stadt denn nicht entdecken? Über den Straßen fliegen?« Er brauchte ja nicht gleich irgendwo zu landen, wo jemand ihn zufällig berühren konnte, das konnte sie schon verstehen. Aber wollte er sich New York denn überhaupt nicht direkt und aus der Nähe ansehen?
Aodhan warf ihr einen durchdringenden Blick zu. Ihr Gesicht spiegelte sich in jedem der Millionen kleinen Fragmente, aus denen seine Augen zu bestehen schienen. »Sie haben recht, Gemahlin, ich sollte in der Stadt gesehen werden. Besonders jetzt. Es gibt einige, die meine Macht vergessen haben, weil ich es vorziehe, sie nicht zur Schau zu stellen.«
Bestimmt war Aodhan ebenso gefährlich wie die anderen der Sieben, daran hegte Elena keinerlei Zweifel. »An den politischen Aspekt hatte ich dabei gar nicht gedacht. Eigentlich mache ich mir eher Gedanken um Sie.« Nach allem, was sie wusste, stand er unter den Unsterblichen von New York nur Illium nahe, wahrte aber auch zu diesem eine fast schmerzhafte Distanz.
»Selbst als wir noch klein waren, war Aodhan immer sehr ernst, während ich eigentlich nur Unfug im Kopf hatte. Aber trotzdem wohnte Lachen in seiner Seele, und er war aufmüpfig genug, um mir in allen Dingen ein wahrer Freund zu sein. Er fehlt mir so.«
11
Elena konnte Illiums traurige Worte einfach nicht vergessen. »Aber es kann doch niemand ganz allein durchs Lebens gehen«, sagte sie leise. Nicht einmal eine Frau, die als kleines Mädchen beim Nachhausekommen den hochhackigen Schuh ihrer Mutter in der Eingangshalle gefunden und sich geschworen hatte, nie wieder jemandem so viel Macht über ihr Herz zu geben. Erst Sara hatte nach langen Jahren diese Mauer durchbrechen
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