Engelslied
überragte Keir um mehrere Zentimeter. »Ich bin ihr Zugang zu Raphael.« Bis jetzt hatte sie nicht verstanden, dass das Gros der kämpfenden Truppe Raphael gegenüber ebensolche Scheu und Ehrfurcht empfand wie die meisten Sterblichen. Selbst unter Engeln war ein Erzengel ein Wesen, das man zu fürchten und zu respektieren hatte.
Was die einfachen Truppen betraf, so standen Dmitri, Aodhan, Galen, Illium sowie alle anderen, die zur Gruppe der Sieben gehörten, nur knapp unter den Erzengeln des Kaders. Die Kämpfer würden sich ohne zu zögern an einen der Sieben wenden, wenn es um Probleme der Verteidigung ging, aber sie mit irgendetwas anderem zu behelligen käme ihnen gar nicht erst in den Sinn. »Ich bin diejenige, die unter die disziplinierte, geordnete Oberfläche blicken und das Individuum darunter erkennen soll.« Die, die den Daumen am Puls des lebenden Herzens des Turms halten sollte, sich um das Wohlergehen und Glück der Leute kümmern sollte.
»Du kommst dir dumm vor, weil es so lange gedauert hat, bis dir das klar wurde.«
»Hätte mich nicht irgendwer mal aufklären können?« Nicht, dass sie dann genau gewusst hätte, was zu tun war – das wusste sie jetzt immer noch nicht – aber sie hätte es doch zumindest versucht. »Das läuft ja jetzt schon seit Monaten schief.«
Keir runzelte tadelnd die Stirn. »Niemand hat erwartet, dass du diese Aufgabe jetzt schon übernimmst. Damit hätte man noch in den nächsten Jahren, sogar Jahrzehnten nicht gerechnet. Du bist eine sehr junge Gemahlin, jeder weiß, wie viel du noch zu lernen hast. Nur hat das Schreckliche der vergangenen Tage unsere Zeitrechnung durcheinandergebracht.« Unter Keirs Augen lagen tiefe Schatten, auch seine Stimme klang angespannt und traurig.
»Ich weiß bloß nicht, wie ich dieser Aufgabe gerecht werden soll.« Ein Eingeständnis, das sich Elena mühsam aus der Seele gerissen hatte. »Gerade eben erst habe ich Aodhan geraten, Risiken einzugehen, aber, Himmel, Keir – ich glaube, ich bin an meine Grenzen gestoßen. Ich weiß nicht, ob mein Herz groß genug ist, um Tausende darin aufnehmen zu können.« Von denen einige unausweichlich im Kampf sterben würden. Und wenn sie die Namen der Leute kannte, ihre Hoffnungen, ihre Träume, dann traf jeder Verlust sie ganz direkt, dann konnte sie keine Distanz mehr wahren. Jeder Tod ein weiterer Schnitt in ihr zerschundenes Herz. »Ich habe schon zu viele Leute verloren!«
»Mut, Elena.« Er strich ihr mit den Fingerspitzen über die Wange, ehe er sie zurück auf die Krankenstation führte. »Und davon hast du, wie ich weiß, jede Menge und handelst danach. Oft, ohne erst groß nachzudenken.«
Im nächsten Stockwerk brauchte Elena all ihren Mut, stand ihr hier doch eine Begegnung bevor, die sie bis zum letzten Moment verschoben hatte. »Izzy.« Der junge blonde Engel, dem man die Locken abrasiert hatte, um die zerschmetterte Schädeldecke freizulegen, schwärmte schon lange ganz bezaubernd für sie. Er war so schwer verletzt – sie konnte kaum glauben, dass er noch bei Bewusstsein war. Aber das zerschundene Gesicht strahlte, als sie sich neben ihn auf das Bett setzte.
Unwillkürlich erwiderte Elena sein Lächeln. Wie denn auch nicht, er war so reizend in seiner Hingabe.
»Ich dachte, Sie hätten mich vergessen.« Wie schüchtern er war, wie rosa sich seine Wangen färbten, als sie ein bisschen mit ihm flirtete, um ihn von dem quälenden Schmerz seiner Verletzungen abzulenken.
»Unsere Körper sind in der Lage, auch die schlimmsten Wunden zu heilen«, hatte Keir erklärt. »Das bezahlen wir allerdings mit großen Schmerzen. Im Körper eines Engels funktionieren Schmerzmittel nicht, dabei suchen wir schon seit Jahrhunderten nach einer passenden Droge. Auch ich kann den Verletzten den Schmerz nicht nehmen, ich kann ihn höchstens ein wenig lindern. Die ganz Kleinen und alle, die über drei-, vierhundert Jahre alt sind, können für lange Zeit in ein Koma versetzt werden. Aber die jüngeren werden ständig wieder wach und sind leider allzu oft bei Bewusstsein.«
Fünfzehn Minuten später hauchte sie Izzy einen Kuss auf die einzige unversehrte Stelle in seinem Gesicht, sorgsam darauf bedacht, ihm nicht noch weitere Schmerzen zu bereiten. »Ruhe dich aus, heile. Ich komme bald wieder.« Vielleicht hatte sie Angst vor dem, was von ihr verlangt wurde, aber wenn Izak trotz all seiner Qualen noch lächeln konnte, dann konnte sie verdammt noch mal den Mumm finden, für ihn da zu sein. Die zu sein,
Weitere Kostenlose Bücher