Engelslied
Morgen: Es hatte ihn jede Unze seiner nicht unerheblichen Selbstbeherrschung gekostet, nicht vor Zorn völlig außer sich zu geraten, als ihm die Bedeutung von Elenas Frage aufgegangen war. Die Wichtigkeit dieser Frage – und die Tatsache, dass sie ihn dasselbe auf die eine oder andere sehr verhaltene Art nun schon seit Monaten fragte.
Aber mit einem Wutausbruch hätte er sie nur verletzt und verwirrt, denn seine Gemahlin wusste nicht, was sie antrieb, diese Fragen zu stellen. Furcht nämlich. Angst, die sich in einem einfachen Satz zusammenfassen ließ:
Wirst du mich dieses Makels wegen zurückweisen?
Das genau hatte Jeffrey getan, er hatte seine Tochter aus Gründen, die er als Makel sah, zurückgewiesen. Und sie damit auf einer Ebene weit unter ihrem Bewusstsein zutiefst verletzt. Elena wusste, Raphaels Herz gehörte ihr. Sie wusste es – dennoch fürchtete ein misstrauischer, unendlich verletzter Teil von ihr, er könnte eines Tages seine Meinung ändern, könnte beschließen, sie sei es nicht wert, von ihm geliebt zu werden.
Raphael!
Ein sehr verschlafenes Flüstern.
Warum knurrst du in meinem Kopf?
Mit zusammengebissenen Zähnen wandte der Erzengel dem Haus der Deveraux den Rücken zu. Er traute sich selbst nicht, wenn es um Elenas Vater ging. Am Ende schaffte er es doch nicht, den Mann nicht umzubringen, wenn er ihn vor sich sah.
Entschuldige,
Hbeebti
. Ich wusste nicht, dass du es spüren kannst.
Okay.
Schlaf,
sagte er. Und weil er die Vorstellung einfach nicht ertragen konnte, sie könnte leiden, fügte er noch hinzu:
Auch in deinen Träumen sollst du wissen, dass du geliebt wirst.
Natürlich. Ich gehöre dir.
Die schlaftrunken gemurmelten Worte reichten, seinen Zorn zu besänftigen. Trotz all ihrer Ängste verstand Elena durchaus, was sie für ihn war, erinnerte sich sogar daran, wenn sie eigentlich tief und fest schlief.
In deinem Kopf wird nicht mehr geknurrt,
versprach er ihr noch, aber da war sie bereits weit fort, verloren im Schlaf.
Sire,
meldete sich wenig später eine andere Stimme.
Ja, Aodhan?
Augustus wird in einer Stunde den Treffpunkt erreichen.
Danke.
Mit Nazarach und Andreas, zwei seiner Engelkommandanten, hatte er sich bereits getroffen. Beide waren jeweils für die Verwaltung eines bestimmten Teils seines Territoriums zuständig. Augustus war jetzt der Dritte, den er zu einem Gespräch einbestellt hatte. Ein Schritt nach dem anderen, bis jeder Kommandant wusste, was zu tun war, wie er seine Region auf Zeiten längerer Abwesenheit vorzubereiten hatte. Sobald der Krieg ausbrach, brauchte er die Leute in New York. Und der Krieg war eigentlich seit dem Tag unausweichlich geworden, an dem Lijuan ihren ersten Wiedergeborenen erschaffen hatte.
Was sie schuf, war eine Perversion des Lebens. Ihre Kreaturen, erlaubte man ihnen, frei herumzulaufen, würden die ganze Welt infizieren, sie in ein Mahnmal für den lebendigen Tod verwandeln.
Sieben Stunden später, nachdem sie fünf Stunden fest und erholsam geruht, eine Stunde an der Akademie unterrichtet und ein bisschen publikumswirksam zwischen Bürotürmen herumgeflattert war, landete Elena im Turm. Raphael war noch nicht zurückgekehrt, er traf sich irgendwo mit einem seiner Kommandanten. Das Büro, von dem aus Dmitri die Belange des Turms geregelt hatte, ehe er gemeinsam mit seiner Frau die Stadt verließ, war mit Aodhan besetzt.
Der Engel hielt ihr einen in Papier gewickelten Pinsel hin, als sie hereinkam.
Überrascht nahm sie das Geschenk entgegen. »Danke! Aber wofür ist das?«
»Der Sire bat mich, dafür zu sorgen, dass Sie ihn bekommen.«
Neugierig geworden, riss Elena das Papier ab. Auf dem schlanken Pinselstiel standen sieben einfache Worte:
Jede Gemahlin hat ihre ganz eigenen Waffen.
Sie musste lächeln. Die Wege ihres Erzengels waren unergründlich.
Glücklich, ganz schlicht und altmodisch abgrundtief glücklich, verstaute sie das Geschenk vorsichtig in einer mit einem Reißverschluss versehenen Tasche ihrer engen Cargohose, wo es nicht herausfallen konnte. Als sie aufsah, begegnete ihr Aodhans fragender Blick, und ihr wurde klar, dass sie sich seit seiner Versetzung in den Turm nicht ein einziges Mal richtig mit ihm unterhalten hatte. Er war so schön, dieser Aodhan, schön, wie es ein Mensch nicht sein konnte, er war eine Bündelung gesplitterten Lichts.
Um die schwarze, wie ein Obsidian glänzende Pupille herum bestand seine Iris aus kristallklaren, blaugrünen Splittern, seine Haut war wie reiner, mit feinen
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