Engelslieder
sie sie näher kennenlernte. Autumn war zu sensibel, als dass sie mit unverbindlichem Sex hätte umgehen können. Terri war da viel extrovertierter und spontaner. Sie traf sich mit so vielen Männern, wie sie in ihrem vollen Terminkalender unterbringen konnte, und schlief mit jedem, der ihr in den Kram passte.
Autumn ging nur selten aus. Außer bei ihren Lehraufträgen – dem an der Grundschule und dem anderen in dem exklusiven Fitnessclub Pike’s Gym, wo sie ihre Leidenschaft, das Klettern, unterrichtete – war sie eher schüchtern.
“Ich weiß also, warum
ich
keinen Schlaf bekommen habe”, meinte Terri. “Was ist mit dir? Hattest du etwa wieder diesen schrägen Traum?”
Autumn fuhr mit dem kurz geschnittenen Fingernagel den Rand ihres Bechers entlang. “Ja, hatte ich.”
Nach der zweiten Nacht hatte sie Terri von dem Traum erzählt, in der Hoffnung, ihre Freundin hätte irgendetwas gesehen oder gehört, das die ständigen Wiederholungen erklärte.
“Wieder dasselbe? Ein kleines Mädchen namens Molly steigt in ein Auto, und der Typ fährt mit ihr weg?”
“Ja, leider.”
“Das ist seltsam. Die meisten Leute träumen immer wieder, wie sie von einer Klippe stürzen oder ertrinken oder so was.”
“Ich weiß.” Mit einem beklemmenden Gefühl in der Brust blickte sie auf. “Es gibt da etwas, Terri, das ich dir nie erzählt habe. Ich hatte so gehofft, der Traum würde nicht wiederkehren. Dann hätte ich mir darüber keine Gedanken zu machen brauchen.”
Ihre Freundin beugte sich über den Tisch, wobei ihr schulterlanges dunkelbraunes Haar nach vorn fiel. “Und
was
hast du mir nie erzählt?”
“Mir ist das Gleiche schon mal passiert – in meinem zweiten Jahr an der Highschool. Ich hatte einen Albtraum von einem Autounfall. Meine zwei besten Freunde saßen in dem Auto. Und noch ein Junge, der neu an der Schule war. Ich träumte, er habe sich auf einer Party betrunken und danach das Auto gegen einen Baum gesetzt. Alle drei kamen dabei um.”
Terri riss die blauen Augen auf. “Wow, das ist wirklich ein Albtraum.”
“Damals habe ich nichts getan. Ich meine … es war ja nur ein Traum, nicht wahr? Und ich war erst fünfzehn. Ich dachte, wenn ich es erzählte, würden mich alle auslachen. Ich wusste, dass mir niemand glauben würde. Ich habe mir ja selbst nicht geglaubt.
“Bitte sag nicht, dass der Traum wahr wurde.”
Die Beklemmung in Autumns Brust nahm zu. Sie sprach nie über diesen Traum. Sie hatte viel zu große Schuldgefühle. Sie hätte etwas unternehmen, etwas sagen müssen. Das hatte sie sich niemals verziehen.
“Es geschah genau so, wie ich es geträumt hatte. Der neue Schüler, Tim Wiseman, lud meine Freunde Jeff und Jolie zu einer Party ein. Tim war ein Jahr älter, und offenbar gab es dort Alkohol. Jeff und Jolie hatten sich vorher zwar noch nie betrunken, aber ich glaube, an diesem Abend haben das alle getan. Auf dem Heimweg fuhr Tim. Es regnete, und die Straßen waren nass und glatt. Tim nahm die Kurve zu schnell, und das Auto rutschte gegen einen Baum. Er und Jeff waren sofort tot. Jolie starb zwei Tage später.”
Terri starrte sie entsetzt an. “Oh Gott …”
Bei der Erinnerung an die unendliche Verzweiflung und Trauer, die sie damals verspürt hatte, schaute Autumn weg. “Ich hätte etwas sagen oder tun müssen, bevor es zu spät war. Dann könnten meine Freunde heute noch leben.”
Terri griff über den Tisch nach Autumns Hand. “Es war nicht deine Schuld. Wie du selbst gesagt hast: Du warst erst fünfzehn, und auch wenn du etwas gesagt hättest – niemand hätte dir geglaubt.”
“Das rede ich mir auch ein.”
“Ist es seitdem denn noch mal passiert?”
“Bis vor Kurzem nicht. Zwei Jahre vor dem Tod meiner Freunde war meine Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Also dachte ich lange Zeit, das wäre die Ursache für meine Träume gewesen. Aber jetzt glaube ich das nicht mehr. Ich habe immer noch die Hoffnung, dass es diesmal etwas anderes ist. Aber was, wenn nicht? Was, wenn irgendwo da draußen ein kleines Mädchen herumläuft, das bald entführt werden soll?”
“Selbst wenn es so ist, das hier
ist
etwas anderes. Damals kanntest du die Kinder. Aber jetzt hast du keine Ahnung, wo sich dieses kleine Mädchen aufhält. Selbst wenn es existiert, weißt du nicht, wo du es finden könntest.”
“Vielleicht. Aber wenn ich die Menschen aus dem Traum von damals kannte, kenne ich dieses Mädchen womöglich auch. Ich werde mir Schülerakten und -fotos
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