Engelsnacht
fort, »wenn es so ist, wie du sagst, dann hast du trotzdem gewusst, dass ich kommen würde. Du hast mich erwartet.«
»Das ist alles so kompliziert, Luce.«
»Ich hab dich an dem Tag gesehen, bevor du mich gesehen hast. Du bist draußen vor Augustine mit Roland gestanden und ihr habt gelacht. Ihr habt so vertraut miteinander gelacht, dass ich sofort eifersüchtig war. Habt ihr vielleicht über mich gelacht? Wenn du das alles weißt, Daniel, wenn du so schlau bist, dass du vorhersagen kannst, wann ich auftauchen und wann ich sterben werde, und wie unglaublich hart das alles für dich sein wird, wie konntest du dann so lachen? Ich glaub dir nicht«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich glaub überhaupt nichts von dem, was du mir da erzählt hast.«
Daniel strich mit dem Daumen sanft unter ihrem Auge entlang, um eine Träne abzuwischen. »Was für eine große Frage, Luce. Ich bewundere dich dafür, dass du sie stellst, und ich wünschte, ich könnte es dir besser erklären. Lass es mich so ausdrücken: Der einzige Weg, die Ewigkeit zu überstehen, besteht darin, im Augenblick zu leben. Das habe ich getan, nicht mehr und nicht weniger.«
»Die Ewigkeit«, wiederholte Luce. »Noch so etwas, das ich nicht verstehe.«
»Macht nichts. Spielt auch keine Rolle mehr, ich kann jetzt nicht mehr so befreit lachen wie an dem Tag mit Roland. Sobald du auftauchst, bin ich ein Gefangener der Ereignisse.«
»Das klingt alles nicht sehr einleuchtend«, sagte Luce, die jetzt nur noch zurückwollte, bevor es stockdunkel war. Doch »nicht einleuchtend« war für Daniels Geschichte viel zu harmlos ausgedrückt. Seit sie hier in der Sword & Cross war, hatte sie die ganze Zeit geglaubt, sie wäre verrückt. Aber ihre eigene Verrücktheit verblasste gegenüber Daniels.
»Es gibt leider keine Gebrauchsanweisung dafür, wie man diese … Sache dem Mädchen, das man liebt, erklären soll.« Er schaute ihr in die Augen und strich mit den Fingern über ihre Haare. »Ich versuche ja mein Bestes. Ich möchte, dass du mir vertraust, Luce. Was kann ich tun, damit du mir glaubst?«
»Denk dir eine andere Geschichte aus«, sagte sie verbittert. »Lass dir eine bessere Ausrede einfallen, wenn du mit mir Schluss machen willst.«
»Du hast selbst gesagt, dir sei, als würdest du mich kennen. Ich habe versucht, alles so lange wie möglich zu leugnen, weil ich wusste, dass es wieder so enden würde.«
»Ich hatte das Gefühl, dich von irgendwoher zu kennen, das stimmt«, gab Luce zu. »Vielleicht von einer Sportveranstaltung oder aus einem Sommercamp oder irgend so was. Aber nicht aus einem früheren Leben.« Sie schüttelte den Kopf, wie um die Furcht loszuwerden, die in ihrer Stimme mitschwang. »Nein, ich … ich kann nicht. Ich kann dir nicht glauben.«
Sie hielt sich die Ohren zu. Daniel zog ihre Hände sanft herunter.
»Und dennoch weißt du tief in deinem Herzen, dass ich die Wahrheit sage.« Er umfasste kurz ihre Knie und schaute ihr tief in die Augen. »Du wusstest es, als ich dir auf den Gipfel des Corcovado folgte, weil du die Christus-Statue aus der Nähe sehen wolltest. Du wusstest es, als ich dich schwitzend zwei Meilen bis ans Ufer des Jordans trug, nachdem du vor den Mauern von Jerusalem ohnmächtig geworden warst. Ich hatte dich noch gewarnt, nicht zu viele von den Datteln zu essen. Du wusstest es, als du während des Ersten Weltkriegs meine Krankenschwester in dem italienischen Lazarett warst, und du wusstest es auch, als ich mich während der zaristischen Verfolgungen in Sankt Petersburg in deinem Keller versteckte. Und als ich in der Reformationszeit die Treppe zum Bergfried eurer Burg in Schottland hochstürmte, da wusstest du es auch, wie auch in Versailles, wo ich auf dem Ball im Spiegelsaal des Schlosses um dich herumtanzte. Da wurde die Krönung des neuen Königs gefeiert, und du warst die einzige Hofdame, die schwarz gekleidet war. Aber es gab auch noch unsere Begegnung in der Künstlerkolonie in Quintana Roo, und dann den Protestmarsch in Kapstadt, wo wir verhaftet wurden und eine Nacht im Gefängnis verbringen mussten. Oder erinnere dich an die Eröffnung des Globe Theatre in London. Wir hatten die besten Plätze. Als ich damals vor Tahiti Schiffbruch erlitt, warst du plötzlich da, und du warst auch bei mir, als ich aus einem englischen Zuchthaus nach Melbourne verbannt wurde, und als ich in Nîmes im achtzehnten Jahrhundert ein Taschendieb war und viel früher ein Mönch in Tibet. Du tauchst immer und überall
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