Engelsnacht
allein war.
Ein Klopfen an der Tür.
Nein, bitte jetzt nicht!
Luce reagierte nicht. Sie wollte niemanden sehen. Wer auch immer es sein mochte, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Noch ein Klopfen. Schweres Atmen und dann ein Räuspern, wie von jemandem, der Asthma hatte oder Allergiker war.
Penn.
Sie konnte Penn jetzt nicht sehen. Entweder würde sie sich völlig durchgedreht anhören, wenn sie ihr zu erklären versuchte, was sich in den letzten 24 Stunden alles ereignet hatte, oder sie würde innerlich durchdrehen, wenn sie versuchte, auf ganz normal zu machen und alles für sich behielt.
Endlich hörte sie, wie sich Penns Schritte auf dem Korridor entfernten. Luce atmete erleichtert auf. Dann wurde dieser Seufzer zu einem einsamen, schmerzlichen Wimmern.
Sie wäre so gerne richtig wütend auf Daniel gewesen, weil er dieses Chaos in ihr ausgelöst hatte, und für einen Moment versuchte sie, sich ein Leben ohne ihn vorzustellen, um das alles hinter sich zu lassen. Unmöglich. So unmöglich, wie wenn man sich an den ersten Eindruck von einem Haus zu erinnern versucht, in dem man viele Jahre gelebt hat. So sehr hatte sie schon das Gefühl, dass ihr Leben mit seinem verwoben war. Und jetzt musste sie durch das Labyrinth all der Dinge hindurch, die er ihr eben auf dem Friedhof erzählt hatte, einen Ausweg für sich - und für sie beide - finden.
Aber da war noch etwas anderes. Ob sie wollte oder nicht, ihre Gedanken kreisten immer wieder um das, was er über die vielen Male gesagt hatte, die sie sich in der Vergangenheit bereits begegnet waren. Luce konnte sich vielleicht nicht mehr genau an die Augenblicke erinnern, die er geschildert, oder an die Orte, die er erwähnt hatte, aber trotzdem hatten seine Worte sie nicht überrascht. Es klang alles so vertraut.
Zum Beispiel hatte sie aus einem ihr bisher unerklärlichen Grund Datteln immer gehasst. Sie brauchte sie bloß zu sehen, und schon wurde ihr schlecht. Es ging sogar so weit, dass sie ihrer Mutter schließlich erklärte, sie sei allergisch dagegen, damit sie nicht weiter versuchte, Datteln in alle möglichen Kuchen und Kekse zu schmuggeln. Und sie hatte ihre Eltern, seit sie denken konnte, angefleht, einmal mit ihr nach Rio de Janeiro zu reisen, ohne zu wissen, warum sie unbedingt dorthin wollte. Und die weißen Pfingstrosen. Daniel hatte ihr nach dem Brand in der Bibliothek einen großen Strauß weiße Pfingstrosen gebracht. Es waren schon
immer ihre Lieblingsblumen gewesen. So fremdartig, aber auch so vertraut.
Der Himmel vor dem Fenster war pechschwarz, ohne Mondlicht oder Sterne, nur ein paar graue Wolkenfetzen waren zu erkennen. In ihrem Zimmer war es finster, aber die weißen Blütenblätter der Pfingstrosen auf ihrem Fensterbrett leuchteten in der Dunkelheit. Sie standen dort nun schon über eine Woche in der Plastikflasche und nicht ein einziges Blatt war verwelkt.
Luce stand auf und atmete ihren süßen Duft ein.
Sie konnte auf Daniel nicht wütend sein. Ja, die Geschichte, die er ihr da erzählt hatte, klang total verrückt, aber er hatte recht - sie war immer wieder zu ihm gekommen und hatte ihn damit bedrängt, dass zwischen ihnen eine Verbindung bestand. Und nicht nur das. Sie war diejenige, die die Schatten sah; diejenige, die in den Tod von zwei Mitschülern verwickelt war, erst in Dover und jetzt hier in der Sword & Cross. Sie hatte versucht, nicht an Trevor und Todd zu denken, als Daniel angefangen hatte, von ihren eigenen Toden zu erzählen - wie oft er sie schon hatte sterben sehen. Immer wieder. Tot. Wenn es möglich wäre, über solche Dinge zu reden, dann hätte Luce ihn gerne gefragt, ob er sich verantwortlich fühlte. Schuldig an ihrem wiederkehrenden Tod. Ob die Wirklichkeit, in der er lebte, sich so ähnlich anfühlte wie ihre. Von einem dunklen, hässlichen Geheimnis überschattet. Ihrer unergründlichen Schuld am Tod zweier Menschen.
Luce sank auf ihren Schreibtischstuhl, der aus irgendeinem Grund in der Mitte ihres Zimmers stand. Reichlich ungemütlich. Was war das denn? Etwas Dickes, Hartes lag auf dem Sitz. Sie stand wieder auf. Ein Buch.
Luce ging zur Wand und machte das Licht an, blinzelte
kurz in dem grellen Neonröhrenlicht. Das Buch, das sie in den Händen hielt, hatte sie noch nie gesehen. Es war schwer, hatte einen blassen grauen Einband und war an den Ecken abgestoßen. Brandgeruch haftete ihm an.
Über das Wächteramt der Engel. Theologisch-philosophische Betrachtungen zur Welt- und Himmelsordnung
Das
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