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Engelsnacht

Engelsnacht

Titel: Engelsnacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Kate
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Da. Sie presste die linke Hand aufs Herz. Ein paar Federzeichnungen, mit tiefschwarzer Tinte an einem Seitenrand. Schnell skizziert, mit schwungvollen Strichen. Von jemandem, der dafür eine Begabung hatte. Luce fuhr mit dem Finger über die Zeichnungen, wie um sie durch diese Berührung in sich aufzunehmen. Der sanfte Schwung der Schulter einer jungen Frau, von hinten gesehen. Ihre Haare, die im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst waren. Eine Sitzstudie, übereinandergeschlagene Beine, die nackten Knie, Linien, die zu einem dunkel schraffierten Schoß führten. Ein schmales Handgelenk mit einer geöffneten Handfläche, in der eine große, voll erblühte Pfingstrose lag.
    Luces Hand begann zu zittern. Ihr stiegen die Tränen hoch. Sie wusste nicht, warum nach allem, was sie an diesem Tag gesehen und gehört hatte, sie ausgerechnet diese Zeichnungen zu Tränen rührten. Weil sie so schön waren? Unnennbare Trauer überwältigte sie. Die Schulter, die Knie, das Handgelenk … das war alles ihr Körper. Sie war sich ganz sicher, dass alle diese Zeichnungen von Daniel stammten.
    »Lucinda.« Miss Sophia wirkte nervös. »Bist du … geht es dir gut?«
    »Ach, Daniel«, flüsterte Luce. Sie seufzte tief auf. Wie sehr sie sich danach sehnte, wieder in seiner Nähe zu sein.
    Sie wischte sich die Tränen aus den Augen.
    »Er wurde verdammt«, sagte Miss Sophia mit unerwartet kalter Stimme. »Ihr beide seid Verdammte.«
    Verdammt. Auch Daniel hatte davon gesprochen. Verdammt, das war sein Wort gewesen. Damit hatte er beschrieben,
was vor langer, langer Zeit mit ihm geschehen war. Mit ihm, nicht mit ihr.
    »Wir sind beide Verdammte?«, fragte Luce. Aber sie wollte es gar nicht mehr wissen, sie wollte nur noch zu Daniel.
    Miss Sophia schnippte mit den Fingern vor Luces Gesicht. Luce schaute ihr in die Augen, träge und langsam, töricht lächelnd.
    »Du bist immer noch nicht erwacht«, murmelte Miss Sophia. Sie schlug das Buch mit so einem lauten Knall zu, dass Luce aus ihrer Benommenheit aufschreckte, und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Hat er dir irgendetwas erzählt? Vielleicht nach dem Kuss?«
    »Er hat mir erzählt …«, begann Luce. »Aber das hört sich zu verrückt an.«
    »Das ist mit solchen Dingen häufig so.«
    »Er hat gesagt, dass wir beide … dass wir so was wie seit ewigen Zeiten unglücklich Liebende sind.« Luce schloss die Augen und erinnerte sich an die lange Liste der Begegnungen zwischen Daniel und ihr, die in ihren früheren Leben stattgefunden hatten. Zuerst hatte sie diese Vorstellung sehr befremdet, aber je länger sie darüber nachdachte, desto romantischer kam es ihr vor. Eine Liebesgeschichte, die noch romantischer und trauriger war als die von Romeo und Julia. Eine unglückliche Liebe so alt wie die Welt. »Er hat von den vielen Malen erzählt, die wir uns ineinander verliebt haben, in Rio de Janeiro, in Jerusalem, auf Tahiti …«
    »Das klingt wirklich ziemlich verrückt«, sagte Miss Sophia. »Du hast ihm natürlich nicht geglaubt?«
    »Zuerst nicht.« Luce erinnerte sich an ihre hitzige Auseinandersetzung unter den Pfirsichbäumen. »Er fing mit der Bibel an, was bei mir das sicherste Mittel ist, damit ich auf Durchzug stelle -« Sie biss sich auf die Zunge. »Entschuldigung.
War nicht so gemeint. Ich finde Ihren Unterricht wirklich interessant.«
    »Schon gut. Ich nehme das nicht persönlich. In deinem Alter entfernen sich die meisten von ihrer religiösen Erziehung. Das ist nichts Besonderes, Lucinda.«
    »Ähm, na ja.« Luce knackte mit ihren Fingerknöcheln. »Ich hatte überhaupt keine religiöse Erziehung. Meine Eltern sind nicht gläubig, und deshalb -«
    »Alle Menschen glauben an irgendetwas. Du bist doch bestimmt getauft?«
    »Nein, es sei denn, das Schwimmbecken im Kirchenschiff der Sword & Cross zählt als Taufbecken«, sagte Luce halb im Spaß, halb im Ernst und deutete mit dem Kinn in Richtung Turnhalle.
    Natürlich hatten sie zu Hause immer Weihnachten gefeiert, sie war auch ein paar Mal in der Kirche gewesen, und als es ihr - und allen um sie herum - mit ihrem eigenen schwierigen Leben so elend gegangen war, hatte sie immer irgendwie daran geglaubt, dass es da oben irgendjemanden oder irgendetwas gab, woran es sich zu glauben lohnte. Mehr hatte sie nicht gebraucht.
    Quer durch den Raum war ein lautes Rumpeln zu hören. Roland war mitsamt seinem Stuhl umgekippt. Als Luce das letzte Mal hinüberblickte, hatte er sich auf zwei Stuhlbeinen abenteuerlich weit nach

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