Engelsnacht
zu wenden. Die junge Frau in dem Ballkleid …
… war sie selbst.
Wenn Luce nach wie vor recht haben wollte, dann mussten Daniel und sie mindestens schon einmal zusammen nach Savannah gereist sein, was sie vergessen hatte, und dort in historischen Kostümen für ein Foto, das auf gute alte Zeiten machte, posiert haben, was sie auch total vergessen hatte. Oder Daniel hatte ihr die Wahrheit erzählt.
Sie beide kannten einander.
Aus einer ganz anderen Epoche.
Wieder stockte ihr der Atem. Ihr ganzes Leben wurde in ihrem Kopf durcheinandergewirbelt, alles bekam plötzlich eine neue Bedeutung - die schrecklichen Schatten, die sie verfolgten, der grausige Tod von Trevor, ihre Träume …
Sie musste unbedingt zu Penn. Wenn jemand für alles eine Erklärung finden konnte, dann Penn. Ihr würde zu diesen unheimlichen Zufällen und Ereignissen etwas einfallen. Das alte Buch mit der Fotografie unter den Arm geklemmt, stürmte Luce aus ihrem Zimmer und machte sich zur Bibliothek auf.
Dort war es leer und warm, aber irgendetwas an den hohen Räumen mit den endlosen Regalen voller Bücher ließ Luce erschaudern. Sie ging schnell an dem neuen Auskunftsschalter vorbei, der noch immer steril und unbelebt wirkte, dann an dem eindrucksvollen, nie benutzten alten Karteikatalog und der großen Abteilung mit den Nachschlagewerken, bis sie schließlich zu den langen Tischen im Bereich des Lesesaals kam.
Statt Penn traf Luce dort Arriane an, die mit Roland eine Partie Schach spielte. Sie hatte die Füße auf den Tisch gelegt und trug auf dem Kopf eine blau-weiß gestreifte Schiebermütze. Ihre Haare hatte sie unter die Kappe gesteckt, und Luce fiel zum ersten Mal, seit sie ihr damals die Haare geschnitten hatte, die weiß schimmernde, verwachsene Narbe an ihrem Hals auf.
Arriane konzentrierte sich ganz auf das Spiel. Eine dicke Schokoladenzigarre hing in ihrem Mundwinkel, während sie über ihren nächsten Zug nachdachte. Roland hatte seine Dreadlocks zu zwei dicken Knoten zusammengebunden, die hoch über seiner Stirn saßen. Er musterte Arriane mit zusammengekniffenen Augen und tippte mit dem kleinen Finger nervös gegen einen Bauern.
»Und Schachmatt. Ha!«, rief Arriane triumphierend und warf Rolands König genau in dem Augenblick um, als Luce vor ihrem Tisch stehen blieb. »Lulululucinda«, sang Arriane, als sie aufblickte. »Bist du mir aus dem Weg gegangen?«
»Nein.«
»Ich hab Dinge über dich gehört«, verkündete Arriane, was Roland gleich erwartungsvoll aufhorchen ließ. »Also, du weißt schon. Lalalala. Setz dich und erzähl. Sofort.«
Luce presste das Buch an die Brust. Sie wollte sich nicht zu Arriane und Roland setzen. Sie suchte Penn. Sie wollte jetzt nicht über irgendwelche belanglosen Dinge mit Arriane reden - und erst recht nicht in Gegenwart von Roland, der bereitwillig seine Sachen von dem Stuhl neben ihm räumte.
»Hier ist Platz für dich.«
Luce setzte sich steif auf die Vorderkante des Stuhls. Nur für ein paar Minuten. Arriane hatte recht, sie hatten sich schon seit Tagen nicht mehr gesehen, und unter normalen Umständen hätte sie dieses verrückte Mädchen bestimmt vermisst.
Aber die Umstände waren alles andere als normal, und Luce hatte nur noch die Fotografie im Kopf, nichts anderes mehr.
»Okay«, meine Arriane. »Nachdem ich soeben wie nichts Roland vom Schachbrett gefegt habe, lasst uns ein anderes
Spiel spielen. Wie wär’s mit: ›Wer hat gestern ein Foto von Luce gesehen?‹.« Sie verschränkte die Arme auf dem Tisch und beugte sich zu Luce vor.
»Was?« Luce wich erschrocken zurück. Sie presste die Hand noch fester gegen das Buch, ihr angespannter Gesichtsausdruck, da war sie sicher, würde sie bestimmt verraten. Wenn sie das Buch doch bloß nicht mitgenommen hätte!
»Drei Mal darfst du raten.« Arriane verdrehte die Augen. »Molly hat gestern ein Foto von dir gemacht, wie du nach dem Unterricht in eine große schwarze Limousine steigst.«
»Oh«, seufzte Luce.
»Sie wollte dich an Randy verpetzen«, fuhr Arriane fort. »Bis ich ihr eine verpasst habe. Hey!« Sie schnippte mit den Fingern. »Und jetzt, um mir deine Dankbarkeit zu zeigen, erzähl - bringen sie dich heimlich weg, damit du draußen deinen Psychiater aufsuchen kannst? Oder«, sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, »hast du einen Liebhaber, der dich abholen lässt?«
Luce blickte zu Roland, der sie mit großen Augen anstarrte.
»Weder noch«, sagte sie. »Ich war nur kurze Zeit weg, weil ich mit Cam reden
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