Engelsnacht
nachgespielt. Willst du zum Arzt gehen? Wenn mein Erste-Hilfe-Koffer nicht im Feuer verbrannt wäre, würde ich gleich selbst deine Temperatur messen.«
»Nein … ach, ich … ich weiß nicht.« Luce hielt immer noch das Buch an die Brust gedrückt und überlegte, ob sie Miss Sophia alles erzählen sollte, von Anfang an … aber wann hatte alles angefangen?
Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Miss Sophia entdeckte das Buch, seufzte und blickte Luce an. »Du hast es schließlich gefunden! Komm mit, wir müssen reden.«
Auch Miss Sophia schien mehr über Luces Leben zu wissen als sie selbst. Über ihr jetziges Leben oder die vielen davor? Luce war inzwischen vollkommen verwirrt.
Sie folgte Miss Sophia zu einem Tisch. Arriane und Roland konnte sie aus dem Augenwinkel noch vor ihrem Schachbrett sitzen sehen, aber sie waren zu weit weg, um verstehen zu können, was sie redeten.
»Wie bist du auf dieses Buch gekommen?« Miss Sophia tätschelte Luces Hand und setzte dann ihre Brille auf. Ihre
kleinen schwarzen Augen glänzten hinter den Gläsern wie schwarze Perlen. »Sei unbesorgt. Du kriegst deswegen keinen Ärger.«
»Ich weiß es nicht. Penn ist darauf gestoßen, und dann haben wir danach gesucht. War so ein dummer Einfall von uns. Wir dachten, der Verfasser stünde vielleicht in irgendeiner Beziehung zu Daniel Grigori, aber das war natürlich nur so eine Vermutung. Das Buch stand nicht an seinem Platz, ja, und dann wollte Penn Sie danach fragen und in der Bibliothek ist das Feuer ausgebrochen. Als ich heute Abend in mein Zimmer kam, lag es plötzlich auf dem Stuhl. Penn hatte es dort -«
»Dann weiß Pennyweather also auch über den Inhalt des Buchs Bescheid?«
»Weiß ich nicht.« Luce merkte, wie sie dabei war, alles, einfach alles zu erzählen, aber sie konnte sich nicht mehr stoppen. Miss Sophia war für Luce die wunderbare, verständnisvolle und leicht verrückte Großmutter, die sie nie gehabt hatte. Die Fantasie ihrer eigenen Großmutter reichte nicht weiter als bis zu einem gemeinsamen Einkaufstrip in den Supermarkt. Außerdem fühlte es sich so tröstlich an, mit jemandem zu reden. »Ich hab sie seither noch nicht gesehen, weil ich mich mit Daniel getroffen habe, der normalerweise immer so komisch zu mir ist, aber gestern Abend hat er mich geküsst, und wir sind zusammengeblieben, bis er mich -«
»Verzeihung, meine Liebe«, unterbrach sie Miss Sophia mit etwas zu lauter Stimme, »hast du gerade gesagt, dass Daniel Grigori dich geküsst hat?«
Luce schlug die Hände vor den Mund. Sie konnte es selbst nicht glauben, dass sie das gerade Miss Sophia erzählt hatte. Sie musste wirklich ziemlich durch den Wind sein. »Entschuldigung, tut mir leid, das ist auch völlig unwichtig.
Damit wollte ich Sie nicht belästigen. Ich weiß nicht, warum mir das so rausgerutscht ist.« Sie war ganz rot geworden und fächelte sich Luft zu.
Zu spät. Vom anderen Ende des Lesesaals rief Arriane zu Luce herüber: »Danke, dass ich es jetzt auch weiß!« Sie wirkte geschockt.
Aber Luce hatte keine Zeit, über Arrianes Reaktion nachzudenken, weil ihr nämlich Miss Sophia das Buch entriss, das sie immer noch umklammert hielt. »Ob Daniel und du euch geküsst habt, meine Liebe, ist nicht nur vollkommen unwichtig, sondern normalerweise auch schlichtweg unmöglich.« Sie strich sich übers Kinn und schaute einen Augenblick nachdenklich zur Decke. »Was bedeutet … nein, das kann nicht sein …«
Miss Sophia blätterte hastig durch das Buch und ihr Finger fuhr in wundersamer Geschwindigkeit am Rand jeder einzelnen Seite entlang.
»Was meinen Sie mit ›normalerweise‹?« Luce fühlte sich von Miss Sophia plötzlich überhaupt nicht mehr verstanden.
»Es geht nicht um den Kuss selbst, Lucinda«, erklärte Miss Sophia mit einer unwirschen Handbewegung, was Luce noch mehr zusammenzucken ließ. »Das ist völlig belanglos. Dieser Kuss bedeutet nichts, es sei denn …« Sie murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und blätterte hastig weiter.
Was wusste Miss Sophia? Daniels Kuss bedeutete ihr alles. Wie konnte sie behaupten, das sei völlig belanglos? Und was ging sie das überhaupt an? Misstrauisch beobachtete Luce ihre Lehrerin mit dem Buch, bis ihr Auge an etwas hängen blieb, eine Sekunde nur.
»Blättern Sie bitte noch mal zurück«, sagte Luce.
Miss Sophia schaute sie an und lehnte sich langsam zurück, während Luce vorsichtig zurückblätterte, sie traute sich kaum, die leicht vergilbten Seiten anzufassen.
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