Engelsnacht
gingen hinaus in die feuchte Nacht. Eine Wolke schob sich gerade vor den Mond und das Schulgelände lag in tiefe Finsternis getaucht vor ihnen. Dann, als hätte sie einen Kompass in der Hand, fühlte Luce sich plötzlich zu den Schatten hingezogen. Sie wusste genau, wo sie waren. Nicht in der Nähe der Bibliothek, aber auch nicht weit entfernt.
Sie konnte sie noch nicht sehen, aber sie konnte sie spüren, was viel schlimmer war. Ein ekelhaftes, juckendes Brennen breitete sich auf ihrer Haut aus, drang von dort ins Blut und in die Kochen. Wie Säure, die sie langsam aufzehrte. Sie hatte das Gefühl, durch schwarze Pfützen zu waten, der beißende Schwefelgeruch umhüllte sie ganz und gar. Die Schatten lauerten inzwischen überall, sie mussten das gesamte Schulgelände bedecken, aber zum Friedhof hin verdichteten sie sich. Alles war von widerlicher Fäulnis und Verfall durchdrungen
»Wo ist Daniel?«, fragte Miss Sophia. Luce stellte fest, dass ihre Lehrerin vielleicht einiges über Daniels Vergangenheit wissen mochte, von den Schatten aber keine Ahnung hatte. Sie erschrak und fühlte sich noch einsamer, als wäre sie verantwortlich für das, was nun geschehen würde, egal, was es war.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Ihr war zumute, als bekäme sie in der sumpfigen, moderigen Schwüle nicht genug Luft zum Atmen. Sie wollte nicht aussprechen, wovon sie wusste, dass es ihr so viel Furcht einjagte. Und inzwischen auch ahnte, warum. Aber sie musste zu Daniel. »Ich habe ihn das letzte Mal auf dem Friedhof gesehen.«
Sie eilten über das Gelände, immer wieder den Schlammpfützen ausweichend, die von den starken Regenfällen geblieben waren. Im Schlaftrakt der Schüler brannten nur noch wenige Lichter. Hinter einem der erleuchteten, vergitterten Fenster sah Luce über einem Buch ein Mädchen sitzen, das sie kaum kannte. Sie waren in den gleichen Vormittagskursen, aber Luce hatte sie nie ein Wort sagen hören. Das Mädchen hatte ein Septum-Piercing, wirkte stark und selbstbewusst. Luce hatte keine Ahnung, ob sie unglücklich oder mit ihrem Leben zufrieden war. Wenn sie mit diesem Mädchen tauschen könnte, das keine apokalyptischen Schatten sah, das sich nicht fragen musste, ob es womöglich für den Tod von zwei Jungen verantwortlich war, das keine jahrhundertelange Vergangenheit hinter sich hatte - würde sie es tun? Aber diese Frage beschäftigte sie nur einen kurzen Augenblick.
Daniels Gesicht - in violettes Licht getaucht wie am Morgen, als er sie die Treppe hoch in ihr Zimmer getragen hatte - tauchte vor ihr auf. Sein golden schimmerndes Haar. Seine zärtlichen Augen. Sein wissender Blick. Die Berührung seiner
Lippen, die alle Finsternis um sie herum verschwinden ließ. Für ihn würde sie all dies und noch mehr erdulden.
Nur hätte sie gerne gewusst, was da alles noch auf sie wartete.
Luce und Miss Sophia hasteten über das Gelände, an der alten Zuschauertribüne vorbei, dann quer über das Fußballfeld. Miss Sophia war für ihr Alter wirklich gut in Form. Sie hatte angefangen zu laufen, war Luce immer ein paar Schritte voraus.
Trotz aller Eile trödelte Luce etwas. Die Angst davor, gleich den Schatten gegenübertreten zu müssen, wurde immer übermächtiger. Als würde ihr ein Hurrikan ins Gesicht blasen und sie müsste sich dagegenstemmen, was sie tapfer tat. Doch der unendlich tiefe Abgrund an Übelkeit in ihr ließ sie spüren, dass sie bis jetzt nur eine schwache Ahnung davon hatte, was diese finsteren Mächte vollbringen konnten.
Am Tor zum Friedhof hielten sie an. Luce zitterte und schlang in einem fruchtlosen Versuch, es zu verbergen, die Arme um sich. Ein Mädchen stand dort. Sie kehrte ihnen den Rücken zu und blickte auf das Gräberfeld.
»Penn!«, rief Luce erfreut. Wenigstens hatte sie ihre Freundin gefunden.
Penn drehte sich um. Ihr Gesicht war leichenblass. Trotz der Hitze trug sie eine schwarze Windjacke und ihre Brillengläser waren von der schwülen Feuchtigkeit beschlagen. Sie zitterte genauso stark wie Luce.
»Was ist passiert?«, brachte Luce atemlos hervor.
»Ich hab dich gesucht«, sagte Penn. »Und dann sind die anderen an mir vorbeigerannt, in den Friedhof hinein.« Sie deutete nach vorne. »Aber ich … ich k-k-konnte nicht.«
»Was ist los?«, fragte Luce. »Was geht da vor sich?«
Aber sie hätte gar nicht zu fragen brauchen, sie wusste es bereits. Was da auf dem Friedhof geschah, würde Penn nie sehen oder begreifen können. Die brodelnden schwarzen Schatten
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