Engelsnacht
musste. Es war aber nicht so, wie -«
»Ha! Ich hab die Wette gewonnen.« Roland grinste. »Du schuldest mir zehn Dollar, Arri.«
Luce blieb der Mund offen stehen.
Arriane tätschelte ihr die Hand. »Keine große Sache. Nur um es zwischen Roland und mir etwas spannender zu machen. Ich habe behauptet, es wäre Daniel, mit dem du zusammen warst. Roland dagegen hat auf Cam gewettet. Du machst mich noch bankrott, Luce. Das gefällt mir nicht.«
»Ich war mit Daniel zusammen«, erklärte Luce, ohne zu wissen, warum sie das eigentlich sagte. Hatten die beiden nichts Besseres zu tun, als herumzusitzen und sich darum zu kümmern, was sie mit ihrer Zeit anfing?
»Oh.« Roland klang enttäuscht. »Die Geschichte wird immer komplizierter.«
Luce wandte sich an Roland. »Ich muss dich was fragen.«
»Schieß los.« Er holte einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus der Innentasche seines Nadelstreifenjacketts. Er hielt den Stift schreibbereit über das Papier, wie ein Kellner, der eine Bestellung aufnimmt. »Was brauchst du? Kaffee? Alk? Harten Stoff krieg ich nur freitags. Schmutzige Heftchen?«
»S-s-sigarren?«, lispelte Arriane, die ihre Schokozigarre wieder in den Mundwinkel gesteckt hatte.
»Nein.« Luce schüttelte den Kopf. »Nichts von der Sorte.«
»Okay, also eine Sonderbestellung. Der Katalog ist in meinem Zimmer«, sagte Roland. »Du kannst später vorbeikommen, wenn du -«
»Danke, danke, aber ich will gar nicht, dass du mir irgendwas organisierst. Ich möchte nur gerne wissen …« Luce räusperte sich. »Du bist doch mit Daniel befreundet?«
Roland zuckte mit den Achseln. »Na ja, wir sind jedenfalls nicht verfeindet.«
»Vertraust du ihm wirklich?«, fragte sie. »Ich meine, wenn er dir etwas erzählen würde, das total verrückt klingt, würdest du ihm dann glauben?«
Roland starrte sie an, er wirkte einen Moment überfordert. Dafür schien bei Arriane die Neugierde erst recht geweckt. »Warum willst du das denn wissen?«
Luce stand auf. »Ach, nichts weiter. Nur so.« Sie hätte
nicht davon anfangen sollen. Jetzt brach wieder alles über sie herein. All die vielen Dinge, die sie verwirrten.
»Ich muss gehen«, sagte sie. »Tut mir leid. Bis morgen.«
Sie schob ihren Stuhl zurück und ging davon. Ihre Beine waren schwer und wie betäubt, in ihrem Kopf schwirrte alles durcheinander. Ein Windhauch spielte mit den Haaren in ihrem Nacken. Sie drehte den Hals, um nach den Schatten zu suchen. Nichts. Nur eine offene Luke hoch oben im Dachgestühl der Bibliothek. Ein winziges Vogelnest war in dem schmalen Spalt zu erkennen. Luce suchte die Bibliothek mit den Augen noch einmal ab. Vielleicht täuschte sie sich ja. Aber es war tatsächlich nicht die geringste Spur von ihnen zu sehen, weder herabbaumelnde schwarze Tentakel noch heraufziehende grau-schwarze Wolken. Dennoch konnte Luce deutlich spüren, dass die Schatten da waren, sie glaubte beinahe den beißenden Schwefelgeruch in der Luft wahrzunehmen. Wo waren sie, wenn sie nicht hinter ihr her waren? Sie hatte immer geglaubt, die Schatten existierten nur für sie allein. Sie hatte nie bedacht, dass sie vielleicht auch noch anderswo sein könnten, anderes treiben könnten - andere Menschen quälten könnten. Wenn Daniel und sie so viel gemeinsam hatten, konnte er die Schatten dann vielleicht auch sehen?
Als Luce um die Ecke bog, um zum Computerbereich am anderen Ende der Bibliothek zu gelangen, wo sie hoffte, Penn zu finden, rannte sie Miss Sophia direkt in die Arme. Beide gerieten aus dem Gleichgewicht, und Miss Sophia griff nach Luce, um nicht selbst hinzufallen. Sie trug eine enge Jeans und eine lange weiße Bluse, dazu hatte sie eine perlenbesetzte rote Cashmerestrickjacke um die Schultern geschlungen. Ihre metallicgrüne Lesebrille hing ihr an einer Kette mit Perlen in allen Regenbogenfarben
um den Hals. Luce war erstaunt, wie fest und zupackend ihr Griff war.
»Verzeihung«, murmelte Luce.
»Hallo Lucinda, was ist denn mit dir los?« Miss Sophia hielt eine Hand an Luces Stirn. Ihre Hände rochen nach Babypuder. »Geht es dir nicht gut? Bist du etwa krank?«
Luce schluckte heftig, sie war fest entschlossen, nicht in Tränen auszubrechen, nur weil ihre Religionslehrerin nett zu ihr war. »Mir geht es tatsächlich nicht besonders gut.«
»Dacht ich’s mir doch«, sagte Miss Sophia. »Du warst heute nicht im Unterricht und bei unserem geselligen Abend gestern hast du auch gefehlt. Dabei haben ein paar von euch Szenen aus dem Bürgerkrieg
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