Engelsnacht
versuchten mit aller Macht, Luce dort hineinzuziehen, sie allein.
Penn rieb sich die Augen. Der Schreck stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Zuerst dachte ich, das gibt ein Feuerwerk. Aber bisher war am Himmel nichts zu sehen.« Ein Frösteln durchfuhr sie. »Das ist mir alles unheimlich.«
Luce holte tief Luft und musste von dem beißenden Schwefel husten. »Wie kommst du darauf, Penn? Woher weißt du das?«
Mit zitternder Hand zeigte Penn zur Mitte des Friedhofs, wo die großen Grabmäler und Grabkapellen standen. »Siehst du, da?«, sagte sie. »Da vorne flackert etwas.«
Achtzehn
Der Krieg der Welten
Luce schaute einen Augenblick zu den flackernden Lichtern in der Mitte des Friedhofs, dann rannte sie los. Sie raste zwischen Gräberreihen hindurch, über umgekippte Grabsteine, Penn und Miss Sophia am Tor zurücklassend. Die stacheligen Zweige der niedrig wachsenden Lebenseichen zerkratzten ihr Arme und Gesicht, ihre Füße verfingen sich immer wieder in den Wurzeln und im dichten, struppigen Unkraut, doch das alles bemerkte sie kaum.
Sie musste dorthin.
Die Mondsichel am Nachthimmel schimmerte silbern, aber es gab noch eine andere Lichtquelle - weiter vorne, bei den großen Grabmälern. Ihrem Ziel. Es blitzte und zuckte dort wie bei einem riesigen Unwetter mit dicken schwarzen Wolkenbergen. Nur dass sich das alles auf dem Boden ereignete.
Die Schatten hatten sie bereits seit Tagen vorgewarnt, das dämmerte Luce nun. Ihr finsteres Schauspiel war nun so mächtig geworden, dass sogar Penn etwas bemerkte. Und die anderen, die an ihr vorbeigerannt waren, mussten es auch gesehen haben. Luce wusste nicht, was das alles bedeutete. Nur dass Daniel sich womöglich im Mittelpunkt dieses düsteren Zuckens befand - und dass sie daran schuld war.
Ihre Lungen brannten, aber das Bild von ihm, wie er einsam
unter den Pfirsichbäumen stand, trieb sie vorwärts. Sie würde nicht stehen bleiben, bevor sie ihn nicht gefunden hatte - was sie ohnehin wollte, sie wollte ihm das Buch unter die Nase halten und ihm zurufen, dass sie ihm glaubte, dass sie ihm auch vorher schon geglaubt hatte, aber dass sie im ersten Augenblick zu erschrocken gewesen war, um seine unfassbare Geschichte für wahr halten zu können. Sie wollte ihm sagen, sie würde es nicht zulassen, dass die Furcht sie von ihm forttrieb, diesmal nicht. Nie mehr. Denn sie wusste jetzt etwas, etwas, wofür sie viel zu lange gebraucht hatte, um es zu verstehen. Etwas Wildes und Merkwürdiges, das es gleichzeitig einfacher und weniger einfach machte, an ihre gemeinsamen vergangenen Erfahrungen zu glauben. Sie wusste, wer - nein, was Daniel war. Sie hatte es von ihrer ersten Begegnung an gespürt, sie war ganz allein darauf gekommen - ja, sie hatte früher schon einmal gelebt und ihn geliebt. Nur hatte sie nicht verstanden, was das bedeutete, worauf das alles abzielte. Was ihre Träume ihr erzählen wollten, warum sie sich so zu ihm hingezogen fühlte. Bis jetzt.
Aber all das wäre null und nichtig, wenn sie es nicht rechtzeitig schaffte, zur Mitte des Friedhofs zu gelangen, um irgendwie, egal wie, die Schatten zu vertreiben. All das würde keine Rolle mehr spielen, wenn die Schatten Daniel vor ihr erreichten. Sie rannte zwischen den Gräbern entlang, tiefer und tiefer in die Senke des Friedhofs hinein, aber ihr Ziel war immer noch weit entfernt.
Hinter ihr näherten sich schnelle Schritte. Dann war eine schrille Stimme zu hören.
»Pennyweather!« Es war Miss Sophia. Sie hatte Luce fast eingeholt und drehte im Laufen den Kopf, um Penn zur Eile anzutreiben, die vorsichtig über einen umgekippten Grabstein stieg. »Du bist langsamer, als die Polizei erlaubt!«
»Nein!«, brüllte Luce. »Penn, Miss Sophia! Bleibt, wo ihr seid! Geht nicht weiter!« Sie wollte nicht schuld daran sein, dass noch andere den Schatten ausgesetzt waren.
Miss Sophia stand wie erstarrt auf einem weißen Grabstein und schaute zum Himmel; sie schien Luce überhaupt nicht gehört zu haben. Dann hob sie ihre dünnen Arme in die Luft, wie um sich vor etwas zu schützen. Luce starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Nacht. Ihr stockte der Atem. Etwas bewegte sich auf sie zu, von einem eiskalten Wind begleitet.
Zuerst dachte sie, es wären die Schatten, aber das hier war anders, noch unheimlicher, furchterregender. Wie ein zerfranster, unregelmäßiger Schleier aus Milliarden von winzigen schwarzen Flecken zusammengesetzt und voller dunkler Taschen, in
Weitere Kostenlose Bücher