Engelsnacht
in keinem Leben zuvor hast du sie gesehen - und es hat mich erschreckt.«
»Woher willst du wissen, dass ich keine Schuld habe?« Luce dachte an Todd und Trevor. Die Schatten kamen immer zu ihr, bevor etwas Schreckliches passierte.
Er küsste ihr Haar. »Wir nennen diese Schatten Ankünder. Sie wirken bedrohlich, aber sie können dir nichts tun.
Ihre Aufgabe ist lediglich, eine Situation auszuspähen und dann Bericht zu erstatten. Herumzuschwirren und über alles zu reden. Die dämonische Version einer Clique von Highschool-Mädchen.«
»Und was ist mit denen da?« Sie deutete auf die Bäume entlang der Außenmauer des Friedhofs. Ihre Zweige bewegten sich. Doch nicht vom Wind, sondern von der dicken, triefenden Schwärze der Heuschrecken, die sich inzwischen darauf niedergelassen hatten.
Daniel blickte ruhig zu ihnen hinüber. »Das sind die Schatten, die die Ankünder herbeigerufen haben. Zur Schlacht.«
Luce schlotterten vor Angst die Arme und Beine. »Was … um was für eine Schlacht handelt es sich?«
»Die große Schlacht«, antwortete er schlicht. »Aber sie demonstrieren jetzt erst mal, wie stark sie sind. Wir haben noch Zeit.«
Ein Hüsteln hinter ihnen ließ Luce zusammenzucken. Daniel verbeugte sich, um höflich Miss Sophia zu grüßen, die aus dem Schatten der Gruft getreten war. Ihre Haare hatten sich gelöst und umrahmten nun unordentlich und wild ihr Gesicht, passend zum unruhigen und wilden Ausdruck in ihren Augen. Dann trat hinter Miss Sophia noch jemand aus dem Schatten heraus. Penn. Sie hatte die Hände trotzig in die Taschen ihrer Windjacke gesteckt. Ihr Gesicht war immer noch rot und sie wirkte ganz verschwitzt. Achselzuckend nickte sie Luce zu, wie um zu sagen: Ich weiß ja nicht, was zum Teufel hier los ist, aber ich konnte dich einfach nicht allein lassen . Luce musste unwillkürlich lächeln.
Miss Sophia machte einen Schritt nach vorne und hielt das Buch hoch. »Unsere Lucinda hat ihre Hausaufgaben gemacht.«
Daniel rieb sich das Kinn. »Du hast diese alte Schwarte gelesen? Hätte ich sie bloß nie geschrieben.« Er klang fast verlegen - aber für Luce war es die Bestätigung, dass sie die Puzzlestücke richtig zusammengefügt hatte.
»Du hast das Buch geschrieben«, sagte sie. »Und die Skizzen am Rand gezeichnet. Und die Fotografie von uns beiden eingeklebt.«
»Du hast die Fotografie gesehen«, sagte Daniel lächelnd und umarmte sie noch inniger, als hätte die Erwähnung des Bildes eine Flut von Erinnerungen in ihm ausgelöst. »Natürlich.«
»Ich brauchte eine Weile, um zu verstehen. Aber dann sah ich, wie glücklich wir damals waren, und es war, als würde sich in mir drinnen eine Tür öffnen. Plötzlich wusste ich.«
Sie legte eine Hand auf seinen Nacken und zog sein Gesicht zu sich heran. Miss Sophia und Penn, die neben ihnen standen, waren ihr in diesem Augenblick völlig egal. Als Daniels Lippen die ihren berührten, verschwand der düstere, bedrohliche Friedhof um sie herum - und auch die halb eingestürzten Grabmäler, und auch die Heuschreckenschatten, die sich in den Bäumen drängten, und sogar der Mond und die Sterne.
Als sie das erste Mal die Fotografie sah, die in Helston aufgenommen worden war, hatte sie der Anblick zu Tode erschreckt. Die Vorstellung, dass von ihr selbst so viele vergangene Versionen existiert haben sollten, war einfach zu viel für sie. Aber jetzt in Daniels Armen spürte sie, wie alle ihre früheren Ichs sich vereinten, eine große Gesellschaft von Luces, die ein und denselben Daniel immer wieder und wieder geliebt hatten. So viel Liebe - all diese Liebe strömte ihm nun aus ihrem Herzen und ihrer Seele entgegen, drang aus jeder Pore ihres Körpers und füllte den Raum zwischen ihnen.
Und endlich öffnete sich ihr Inneres für die Worte, die er gesagt hatte, als sie gemeinsam zu den Schatten hochblickten: Sie hatte keine Schuld auf sich geladen. Sie hatte nichts falsch gemacht. Es gab für sie keinen Grund, sich schuldig zu fühlen. Konnte das wahr sein? War sie unschuldig am Tod von Trevor und von Todd, wie sie das selbst immer gehofft und tief in ihrem Innern auch geglaubt hatte? Sie spürte, dass Daniel die Wahrheit sprach. Und sie fühlte sich, als würde sie nach einem langen Albtraum erwachen. Sie war nicht länger das Mädchen mit den versengten, abgeschnittenen Haaren und den unförmigen schwarzen Klamotten, nicht länger das Sorgenkind, der ewige Problemfall, die Neurotikerin, aus gutem Grund auf eine finstere Schule wie die
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