Engelsnacht
Wellen schlugen ans Ufer. Sie wäre am liebsten hinein und davongeschwommen. Das hatte Daniel das letzte Mal gemacht, um die Spannung zwischen ihnen zu durchbrechen. Warum sollte sie das jetzt nicht auch tun?
»Mag sein, das überrascht dich jetzt«, sagte sie, »aber es ist für mich nicht gerade angenehm, hier mit dir zu sein und darüber zu reden, wie kaputt ich im Kopf bin.« Und vor allem nicht, mit dir darüber zu reden, dachte sie.
Daniel antwortete nicht, aber sie spürte, wie seine Augen auf sie gerichtet waren. Als sie endlich den Mut fand, sich zu ihm umzudrehen, blickte er sie mit einem merkwürdigen, verwirrenden, traurigen Gesichtsausdruck an - mit einem Blick, der sie tiefernst musterte. Das Grau in seinen Augen war das traurigste Grau, das Luce je gesehen hatte. Sie fühlte sich, als hätte sie ihn enttäuscht und verletzt. Aber es war ihr quälendes Geständnis gewesen. Warum sollte Daniel deshalb so niedergeschmettert sein?
Er ging auf sie zu und neigte den Kopf, bis er ihr direkt in die Augen schauen konnte. Ein so intensiver Blick, dass Luce ihn kaum ertrug. Aber sie brachte es auch nicht fertig, sich zu rühren. Was auch immer jetzt geschehen musste, um
diese Trance zu durchbrechen, es musste von Daniel kommen - der immer noch näher kam, seinen Kopf zu ihr herunterbeugte und die Augen schloss. Seine Lippen öffneten sich. Luce stockte der Atem.
Sie schloss ebenfalls die Augen. Sie neigte ihr Gesicht seinem Gesicht entgegen. Sie öffnete ebenfalls die Lippen.
Und wartete.
Der Kuss, den sie so sehr herbeisehnte, kam nicht. Die Gräser rauschten. Als nichts geschah, öffnete sie die Augen wieder. Daniel war verschwunden. Sie seufzte. Niedergeschlagen, aber nicht überrascht.
Seltsamerweise konnte sie beinahe den Weg sehen, den er zurück durch den Wald genommen hatte. Als wäre sie ein Jäger, der alle Spuren zu deuten wusste. Der an einem geknickten Zweig, einem verdrehten Blatt hätte ablesen können, wohin er gegangen war, sodass ihr eigener Weg wieder zu ihm führte. Doch sie war kein Jäger, und die Spur, die Daniel hinterlassen hatte, war zwar groß und mächtig, aber gleichzeitig flüchtig und schwer zu fassen. Es war, als würde ein violettes Leuchten seinen Pfad zurück durch den Wald markieren.
Wie das violette Leuchten, das sie auf der Feuertreppe gesehen hatte, als sie mit Todd aus dem Feuer in der Bibliothek geflohen war. Hatte sie Gesichter? Sie blickte einen Moment weg, rieb sich die Augen, aber als sie wieder hinschaute, war der Anblick unverändert: Alles war da, die Eichen, der Waldboden, die Vögel auf den Ästen, und doch gleichzeitig merkwürdig unscharf und verzerrt, als würde man eine falsche Brille aufsetzen. Die Ränder ihres Gesichtsfelds begannen zu verschwimmen, und nicht nur das, alles war in ein schwach violettes Licht getaucht und ein kaum hörbares Summen lag in der Luft.
Sie wirbelte herum, um das Licht nicht länger sehen zu müssen, sie hatte schreckliche Angst davor, was es bedeutete. Irgendetwas geschah mit ihr, und sie konnte niemandem davon erzählen. Sie versuchte, sich auf den See vor ihr zu konzentrieren, aber er verdüsterte sich und war nur noch eine dunkle, unscharf begrenzte Fläche. Das gegenüberliegende Ufer war kaum mehr zu erkennen.
Sie war allein. Daniel hatte sie verlassen. Und nur der Pfad leuchtete noch einen Augenblick. Sie konnte - oder wollte - ihm nicht folgen. Als die Sonne hinter dem Wald ganz untergegangen war und der See wie ein schwarzer Spiegel dalag, wandte sich Luce vom Wasser ab. Sie blickte mit neuer Entschlusskraft auf den Wald und wusste nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Es war ein Wald wie jeder andere, kein zitterndes violettes Licht, kein Summen. Keine Spur mehr von Daniel, als wäre er niemals an diesem Ort gewesen.
Dreizehn
Elternliebe
Die schnellen Schritte ihrer Turnschuhe hallten Luce in den Ohren. Sie spürte den schwülen Wind, der an ihrem schwarzen T-Shirt zerrte. Sie glaubte fast den heißen Teer der asphaltierten Fläche auf dem Parkplatz riechen und schmecken zu können. Aber als sie die Arme um die beiden vertrauten Gestalten schlang, die am Eingang der Sword & Cross auf sie warteten, war alles andere vergessen. Es war Samstagvormittag. Endlich.
Sie war noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen, ihre Eltern zu sehen.
Seit dem Besuch an ihrem Krankenbett hatte sie darüber nachgedacht, warum sie einander so kalt und distanziert begegnet waren - und jetzt wollte sie alles
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