Engelsnacht
tun, damit das diesmal nicht wieder passierte.
Die beiden wären fast hingefallen, als Luce in sie hineinrannte. Ihre Mutter fing an zu kichern und ihr Vater klopfte ihr ununterbrochen auf den Rücken. Um den Hals hatte er seine riesengroße Kamera hängen. Dann fassten sich beide wieder und hielten ihre Tochter auf Armeslänge von sich weg, um sie anzuschauen. Aber als sie ihr Gesicht sahen, wurden ihre Mienen traurig. Luce weinte.
»Was ist los, mein Liebling?«, fragte ihr Vater und strich ihr über den Kopf.
Ihre Mutter fischte in ihrer riesengroßen blauen Handtasche
nach einer Packung Papiertaschentücher. Sie ließ eines vor Luces Gesicht baumeln und sagte: »Wir sind ja jetzt bei dir. Alles ist gut.«
Nein, überhaupt nichts war gut.
»Warum habt ihr mich am Dienstag nicht mit nach Hause genommen?«, fragte Luce zornig und verletzt. »Warum habt ihr zugelassen, dass sie mich wieder hierher zurückbringen?«
Ihr Vater wurde blass. »Ich habe beim Schulleiter ein paar Mal nachgefragt und er hat immer wieder betont, es ginge dir gut. Du würdest ganz normal am Unterricht teilnehmen, tapfer und pflichtbewusst, wie wir dich erzogen haben. Nur ein bisschen heiser vom Rauch und mit einer kleinen Beule am Kopf. Nichts Ernstes. Wir haben ihm geglaubt.« Er fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen.
»War es doch schlimmer?«, fragte ihre Mutter.
Der Blickwechsel zwischen ihren Eltern machte Luce klar, dass sie darüber bereits mehrmals diskutiert hatten. Ihre Mutter hatte bestimmt auf einen früheren Besuch gedrängt. Aber Luces Vater, der seine Tochter immer zur Eigenständigkeit erzogen hatte, musste ein Machtwort gesprochen haben.
Keinesfalls durfte sie ihnen erzählen, was in jener Nacht wirklich passiert war oder was sie seither durchgemacht hatte. Sie war wieder ganz normal in den Unterricht gegangen, wenn auch nicht aus eigenem Antrieb. Und körperlich war auch alles in Ordnung. Nur in jeder anderen Hinsicht - mit ihren Gefühlen, Hoffnungen, Wünschen - hätte es ihr kaum dreckiger gehen können.
»Wir versuchen uns nur an die Regeln zu halten«, erklärte ihr Vater und legte ihr seine große Hand in den Nacken. Das Gewicht erdrückte Luce fast, und es fiel ihr schwer still zu stehen, aber sie hatte solche Sehnsucht danach gehabt,
bei den beiden Menschen zu sein, die sie liebte, dass sie es nicht wagte, sich ihm zu entziehen. »Wir müssen diesen Leuten vertrauen«, sagte ihr Vater und deutete auf die Schulgebäude, als verkörperten sie Randy, Schulleiter Udell und die übrigen Erzieher, »ich bin davon ausgegangen, dass hier alles zu deinem Besten ist. Sie haben den Eindruck gemacht, als ob sie wissen, wovon sie reden.«
»Das tun sie nicht«, sagte Luce nach einem Seitenblick auf die schäbigen Gebäude und das menschenleere Freigelände. Bisher hatte sie nichts an dieser Schule davon überzeugt, dass hier irgendetwas zu ihrem Besten sein könnte.
Und was die Behauptung betraf, sie wüssten, wovon sie redeten, da brauchte man ja nur den Elterntag hernehmen. Es war so viel Wirbel darum gemacht worden, wie glücklich sich die Schüler schätzen durften, dass man ihnen erlaubte, ihre Eltern zu sehen. Aber es war jetzt gleich Mittag und auf dem Parkplatz stand ein einziges Auto, das von Luces Eltern.
»Diese Schule hier ist ein einziger Witz«, sagte sie, was so sarkastisch klang, dass ihre Eltern einen besorgten Blick tauschten.
»Luce, Schätzchen«, sagte ihre Mutter und streichelte ihr über die Haare. Luce spürte, dass sie sich immer noch nicht daran gewöhnt hatte, wie kurz sie waren. Als hätten ihre Finger den mütterlichen Drang, dem Phantom ihrer früheren Haare den ganzen Rücken hinunter zu folgen. »Wir wollen uns doch einen schönen Tag miteinander machen. Dein Vater hat alle deine Lieblingsspeisen dabei.«
Ihr Vater hielt verlegen in der einen Hand eine bunte Patchworkdecke und in der anderen einen Koffer aus Weidengeflecht, den Luce vorher noch nie gesehen hatte. Wenn sie ein Picknick machten, war das normalerweise eine viel formlosere Angelegenheit, mit Papiertüten aus dem Supermarkt
und einem alten Laken, auf dem Gras am Flussufer ausgebreitet, ganz in der Nähe ihres Hauses.
»Eingemachte Okraschoten?«, fragte Luce mit einer Mädchenstimme, als wäre sie noch Klein-Lucy. Konnte keiner sagen, dass ihre Eltern sich nicht Mühe gaben. Sie hatten sich inzwischen alle auf eine Bank gesetzt.
Ihr Vater nickte. »Und Eistee und Hefebrötchen mit dicker weißer Soße und
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