Engelsstern
Raum um. Hadrian hatte genau gewusst, dass ich ihm über kurz oder lang folgen würde, als er Garreth mitgenommen hatte. Er musste also hier sein und würde wahrscheinlich gleich aus dem Schatten hervorspringen. Aber nichts geschah, und Garreth rührte sich immer noch nicht. Stattdessen starrte er mich mit plötzlich tiefschwarzen Augen an – mir lief es kalt den Rücken hinunter, und meine Beine gaben nach.
Ein Zittern lief durch Garreths Körper, ich sprang zurück, ohne eine Ahnung, was vor sich ging. Seine beeindruckenden Flügel knirschten und brachen wie Knochen, als sie sich hinter seinem Rücken zusammenfalteten. Ich stand wie festgefroren. Er stöhnte und brach zusammen, von einem unsichtbaren Angreifer gepeinigt.
»W as ist los?« Ich ging auf die Knie und umarmte ihn,hin- und hergerissen zwischen meinem Fluchtinstinkt und dem Verlangen, ihn festzuhalten, wofür jetzt nicht die Zeit war. »Garreth, bitte! Was soll ich tun?«
Der Raum verwandelte sich trotz des warmen Kerzenlichts in Sekundenschnelle in eine eisige Gruft. Die Kälte knisterte und flüsterte einen Namen. Hadrian .
Ich wollte nur noch wegrennen, aber konnte nicht. Die Welt und alles in ihr verlangsamte sich, wie man es aus Träumen kennt, und dann fingen die Steine im Raum an zu springen.
Garreth lag leblos vor meinen Knien. Hinter mir spürte ich etwas und schloss die Augen, ich wusste, was ich sehen würde, wenn ich mich umdrehte. Ich nahm den goldenen Dolch mit festem Griff und verbarg ihn in meinem Ärmel. Jetzt musste ich mich demjenigen stellen, den ich so fürchtete, um denjenigen, den ich liebte, zu retten – und konnte nicht mehr klar denken. Ich hielt den wunderschönen Dolch umklammert, der sich kalt anfühlte, und bereitete mich auf den Moment der Wahrheit vor.
Langsam und kontrolliert stand ich auf. Es tat mir innerlich weh, meinen Körper auch nur einen Zentimeter von der leblosen Hülle meines geliebten Garreth wegzubewegen.
Hadrians Atem strich über meinen Nacken. Ich wusste, er wartete, sicher, dass er siegen würde. Die Frage war nur, konnte ich das verhindern? Oder war alles umsonst?
Der kalte Stahl in meiner Hand brachte mich zur Besinnung. Ich war hier, weil ich mein Herz damit durchbohrt hatte. Konnte ich so auch Hadrian töten? Wie umalles in der Welt vernichtet man einen schwarzen Engel? Fieberhaft wog ich im Geist verschiedene Varianten ab und war ratlos. Diese Situation war mir neu. Ich hing ein paar wertvolle Sekunden lang dem Gedanken an mein sicheres Zuhause nach. Mir wurde klar, wie fremd mir dieses Zuhause gewesen war, und dass ich bisher nur durch mein Leben getrieben war, ohne es wirklich zu leben. Erst Garreth hatte mich zum Leben erweckt. Er hatte mir gezeigt, was fehlte, indem er sich mir offenbart hatte.
Blut schoss in Lichtgeschwindigkeit durch meine Adern und trug ein Feuer mit sich, das stärker wurde und sich mit dem letzten Opfer, das Garreth mir erbracht hatte, vermischte.
Licht.
Hell und heiß, gleich frischem Blut, lief das Licht durch meinen Körper wie in der Nacht, als Garreth es zum ersten Mal in mich hineinfließen ließ, nur war es jetzt mit meinem eigenen vermischt und viel stärker. Mein Erbe. Die Kraft des Erzengels. Die Kraft, die von Hadrian selbst kam, und die ich jetzt gegen ihn einsetzen würde.
Jäh drehte ich mich zu ihm um. »W as hast du ihm angetan?«, fragte ich herausfordernd.
Hadrian schwieg. Er türmte über mir, seine schwarzen Flügel zitterten vor Erregung, er starrte auf mich herab. Ganz offensichtlich wollte er mich einschüchtern, aber ich machte einen Schritt auf ihn zu und nahm die Herausforderung an. Seine dunklen Augen leuchtetenamüsiert auf. Er wich ein wenig zurück, was mich überraschte, und behielt mich neugierig im Blick, während er hin- und herschritt und seine Worte mit Bedacht wählte.
»Dein Schutzengel, Garreth, hat sich schuldig gemacht …«
»Ich will wissen, was du ihm angetan hast.« Zum Glück verriet meine Stimme nichts von meinen weichen Knien. Zu meiner eigenen Überraschung war ich jetzt bereit, den in meinem Ärmel verborgenen Dolch zum Einsatz zu bringen, den Kampf zu beginnen und zu beenden.
»Herrje, wir haben’s aber eilig heute. Darf ich fortfahren?« Hadrian schien mein Versuch, furchtlos zu erscheinen, sehr zu amüsieren. »Als Schutzengel ist es ihm nicht gestattet, die Menschenwelt zu betreten und sich aufzuführen, als sei er wie sein Schützling. Sein ungehöriges Verhalten bringt das ganze System in Gefahr.
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