Engelsstern
umschlingen. Ich war unfassbar erleichtert, ihn lebendig gefunden zu haben. Ich legte die Arme um ihn und drückte mein Gesicht an seine Brust.
»Ich muss dir was sagen, was ich erst jetzt begriffen habe. Ich hab mich immer nach etwas gesehnt, wofür ich noch gar nicht bereit war. Der Traum aller Mädchen, aber ich habe überhaupt nicht verstanden, was es heißt, diesen Traum erfüllt zu bekommen und dann auch festzuhalten.« Ich sah hoch in sein schönes, bleiches Gesicht und sagte mit fester Stimme und voller Überzeugung die Worte, die ich bisher verborgen hatte. »Garreth, ich liebe dich.«
Aber er sah einfach durch mich hindurch, seine Pupillen glänzten unheimlich und milchweiß im Schein der Kerzen.
»Hörst du mich, Garreth?« Ich ließ die Arme fallen und war vollkommen baff. Ich hatte auf mein Herz gehört und die Worte endlich ausgesprochen. Und dann kam von ihm keine Reaktion.
Er stand still wie ein Standbild, sah nichts und spürte nichts.
Ich schaute mich um und merkte, dass wir nicht alleinwaren. Massen von Engeln standen in der ganzen Halle verteilt.
Die gefallenen.
Einige waren männlich, andere weiblich, andere irgendwie androgyn. Ich war so sehr darauf fixiert gewesen, Garreth zu finden, dass ich sie bis jetzt gar nicht wahrgenommen hatte. Aber auch wenn ich die schweigende Engelgruppe sofort bemerkt hätte, wäre es ein Leichtes gewesen, meinen Schutzengel zu erkennen. Seine Schönheit überstrahlte in meinen Augen alles andere.
Die Engel trugen weiße Gewänder in verschiedenen Farbnuancen, das Weiß von durchsichtigen Eierschalen, von Knochen oder von Schnee, die Flügel waren hinter den Rücken mit Ketten gefesselt. Samtige Federn in verschiedenen Schattierungen bedeckten den Steinfußboden, ein Sinnbild ihrer Niederlage. Ich hatte miterlebt, was mit einem Menschen geschieht, wenn ihm sein Schutzengel entrissen wird. Ich hatte gesehen, wie sich die Persönlichkeit verändert, der Mensch war verloren, wenn ihm kein Schutzengel den richtigen Weg zeigen konnte.
Aber der Anblick eines Schutzengels nach der Trennung war erst recht nicht zu ertragen.
Die Engel waren zu stillen, ausdruckslosen Statuen geworden. Sie waren innerlich leer – ihrer Verantwortung enthoben. Nur noch die Hülle war übrig.
Panisch überlegte ich, wo Hadrian sein konnte. Wo war derjenige, der diese wunderbaren Wesen zerstört hatte?
Als ob ich die Worte laut gesprochen hätte, erwachten die Schatten in den Ecken des Raumes zum Leben und wirbelten den vertrauten Geruch von Angst auf.
»Garreth!« Mein Flüstern klang drängend.
Ich zog ihn an den kalten Händen, aber er bewegte sich keinen Millimeter. Ich legte die Arme um seinen Hals, es nutzte alles nichts. Ich dachte an seinen warmen Geruch, an den dünnen Lebensfaden, an dem er mich bis hierher geleitet hatte und der uns verband. Aber jetzt spürte ich ihn nicht mehr und konnte nicht begreifen, warum die Spur sich gerade dann verlor, wenn sie am klarsten sein sollte.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und sah in seine leblosen Augen. Er war da, ich war da. Was konnte daran so falsch sein? Wieder und wieder küsste ich sein Gesicht. War ich zu spät gekommen? Konnte man ihn noch aus diesem furchtbaren Trancezustand aufwecken? Entsetzt erkannte ich, dass er innerlich genauso leer war wie die anderen.
»W as hat er dir angetan?« Verwirrt machte ich einen Schritt zurück. »Garreth, bitte. Du musst mitkommen.« Warum konnte er nicht einfach aufwachen und unsere Chance erkennen? Es war so weit! Genau vor dieser Situation hatte er mich gewarnt! Sie war da!
Ich wollte ihm ins Ohr flüstern, aber er fühlte sich kalt an. Und er roch auch nicht mehr wie er, sondern nach Kälte und Leere.
»Du hast alles riskiert, als du in meine Welt gekommen bist, jetzt hab ich das Gleiche für dich getan.« Ichbekam nicht mit, dass sich die anderen Engel lautlos zurückzogen und verschwanden. Wir waren allein.
Wieder war in den Ecken Bewegung, und plötzlich erwachte etwas in Garreth zum Leben. Seine Hände zerrissen die Bänder und packten mich fest an den Schultern, als ob er auf einmal Schmerzen hätte. In seinen Augen sah ich, dass er verstanden hatte – ich war seinetwegen hier.
»Du liebst mich?« Garreths Stimme klang heiser.
»Ja«, nickte ich, und durch meine Tränen verschwamm sein schönes Gesicht vor mir. »Ich liebe dich.« Ich sah mich um und wollte nur noch weg von hier. »W o ist Hadrian?«
Wieder stieg Angst in mir auf. Ich sah mich in dem leeren
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