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Engelsstimme

Engelsstimme

Titel: Engelsstimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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abgewetzter Bettvorleger, oben, knapp unterhalb der Decke, war ein kleines Fenster.
    Der Mann saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt im Bett. Er trug ein knallrotes Weihnachtsmannkostüm mit entsprechender Mütze, die ihm ins Gesicht gerutscht war. Der weiße Weihnachtsmann-Rauschebart verdeckte den Rest des Gesichts. Die Schnalle des breiten Gürtels war über dem Bauch gelöst worden, und die Jacke war aufgeknöpft. Darunter trug er nichts weiter als ein weißes Unterhemd. Über dem Herzen war eine tödliche Stichwunde. Am Bauch waren noch weitere Verletzungen, aber der Stich ins Herz war der tödliche gewesen. Seine Hände wiesen ebenfalls Stichwunden auf, als hätte er versucht, den Angriff abzuwehren.
    Die Hosen waren heruntergelassen. An seinem Glied hing ein Kondom.
    »Morgen kommt der Weihnachtsmann«, trällerte Sigurður Óli und schaute auf die Leiche hinunter.
    Elínborg brachte ihn mit einem »Psst» zum Schweigen.
    Im Zimmer gab es noch einen kleinen Kleiderschrank. Der stand offen, und man sah zusammengefaltete Hosen und Pullover, gebügelte Hemden und Socken. Die Livree hing auf einem Bügel, dunkelblau mit goldenen Epauletten und glänzenden Messingknöpfen. Neben dem Schrank standen blank geputzte Lederschuhe.
    Zeitungen und Zeitschriften stapelten sich auf dem Fußboden. Neben dem schmalen Bett stand ein Nachttisch mit einer Lampe. Auf dem Nachttisch lag ein Buch: A History of the Vienna Boys’ Choir .
    »Hat dieser Mann hier gewohnt?«, fragte Erlendur und blickte sich um. Elínborg und er hatten sich in das Zimmer hineingezwängt, Sigurður Óli und der Hotelmanager standen draußen. Für alle war drinnen kein Platz.
    »Wir haben ihm gestattet, sich hier einzurichten«, sagte der Hotelmanager verlegen und wischte sich erneut den Schweiß von der Stirn. »Er arbeitete schon seit langem bei uns, war schon da, als ich kam. Er war Portier.«
    »Stand die Tür offen, als man ihn gefunden hat?«, fragte Sigurður Óli und versuchte amtlich zu klingen, um den Ausrutscher von vorhin wieder wettzumachen.
    »Ich habe sie gebeten, auf euch zu warten«, erklärte der Hotelmanager. »Das Mädchen, das ihn gefunden hat. Sie ist in der Kantine für die Hotelangestellten. Das arme Ding steht unter Schock, das könnt ihr euch sicher vorstellen.« Der Hotelmanager vermied es, in das Zimmer zu blicken. Erlendur trat zu der Leiche und untersuchte die Herzwunde. Er konnte sich nicht vorstellen, mit was für einem Messer der Mann getötet worden war. Er blickte hoch. Über dem Bett hing ein altes, vergilbtes Kinoplakat mit Shirley Temple, das an den Ecken mit Tesafilm angeklebt worden war. Erlendur kannte den Film nicht. Er hieß The Little Princess . Das Plakat war der einzige Schmuck, den es im Zimmer gab.
    »Wer ist denn das?«, fragte Sigurður Óli, der an der Tür stand und das Plakat betrachtete.
    »Das steht doch da«, sagte Erlendur. »Shirley Temple.«
    »Wer war das noch? Lebt sie noch?«
    »Wer war Shirley Temple?«, wiederholte Elínborg. »Weißt du wirklich nicht, wer sie war? Du hast doch angeblich in Amerika studiert.«
    »War sie ein Hollywoodstar?«, fragte Sigurður Óli und schaute immer noch auf das Plakat.
    »Sie war ein Kinderstar«, sagte Erlendur mürrisch. »So gesehen ist sie also schon lange tot, ob sie nun noch am Leben ist oder nicht.«
    »Aha«, gab Sigurður Óli von sich, der mit dem Gesagten rein gar nichts anzufangen wusste.
    »Ein Kinderstar«, sagte Elínborg. »Wenn ich mich nicht täusche, lebt sie noch. Ich erinnere mich nicht so genau. Ich glaube, sie arbeitet im Auftrag der Vereinten Nationen.«
    Erlendur fiel auf, dass es keine weiteren persönlichen Gegenstände in dem Zimmer gab. Er sah sich um, nirgends ein Buchregal oder CDs, kein Computer, kein Radio und kein Fernseher. Nur ein Schreibtisch, ein Stuhl neben dem Bett und eben das Bett mit einem zerwühlten Kopfkissen und einem schmutzigen Bettbezug. Der winzige Raum erinnerte ihn an eine Gefängniszelle.
    Er trat auf den Gang hinaus und spähte in die Dunkelheit. Er glaubte, einen schwachen Rauchgeruch wahrzunehmen, so als hätte jemand mit Streichhölzern herumhantiert, um sich Licht zu verschaffen.
    »Was gibt es da hinten sonst noch?«, wandte er sich an den Hotelmanager.
    »Nichts«, erwiderte der und schaute zur Decke. »Nur das Ende des Gangs. Da fehlen ein paar Birnen, ich lass das in Ordnung bringen.«
    »Wie lange hat der Mann hier gelebt?«, fragte Erlendur und ging in das Zimmer zurück.
    »Ich weiß es

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