Engelstraum: Schatten der Ewigkeit: Roman (German Edition)
genommen, wollte eigentlich in die Kirche. Nachdem sie die Nachricht vom Arzt erhielt, hatte sie den ganzen Tag geweint. Deshalb musste sie in die Kirche.
Aber die Kirchentüren waren verschlossen gewesen, und sie hatte die Abkürzung nach Hause genommen.
Ihre Hand wanderte zu ihrem Hals. Beim Schlucken brannte er, und ihre Finger fühlten etwas Nasses, Klebriges. Blut. Nur konnte sie keine Wunde ertasten. Die Haut war glatt und unversehrt.
Sie blickte sich um. Ihr Herz klopfte viel zu schnell. Sie war überfallen worden, daran erinnerte sie sich. Von einem Mann, der sie gegen die Mauer gedrückt hatte, und dann?
Neben ihr lag ein Toter.
Mit einem Aufschrei krabbelte Nicole rückwärts, weg von ihm. Die Augen des Mannes waren weit offen, und sein Hals wies mehrere tiefe Schnitte auf. Oh, verdammt, die stammten von der Glasscherbe neben ihr.
Das habe ich getan.
Vage entsann sie sich, die Glasscherbe gegriffen zu haben.
Ich habe ihn umgebracht.
Sie hatte einen Mann getötet. Ihr wurde schlecht, und sie schloss die Augen.
Aber er hatte versucht, sie umzubringen, fiel ihr wieder ein. Sie hatte sich verteidigt, sonst nichts.
Der Kerl hatte sie gebissen, hatte seine Zähne in ihren Hals gegraben. Sie hatte sich gewehrt, und am Ende war er tot.
Nur hatte sie gar keine Wunden.
Zittrig richtete sie sich auf. Ihre Kehle brannte, allerdings war es eher Durst als Schmerz. Sie war wie ausgetrocknet. Am Verdursten. Wie lange hatte sie denn geschrien?
Wieder blickte sie sich in der Gasse um und bemerkte die dunkle Flüssigkeit auf dem Pflaster. Blut. Ihre Nasenflügel bebten. Der metallische Geruch war sehr stark. Sie benetzte sich die Lippen und stellte fest, dass sie furchtbar ausgehungert war.
»Ma’am?«, rief eine Stimme aus der Dunkelheit.
Nicole drehte den Kopf ruckartig nach rechts. Ein Mann stand am Ende der Gasse. Sie konnte seinen hohen, breiten Schatten sehen. Wenn sie genau hinguckte, konnte sie sogar sein dunkles Haar, die strengen Gesichtszüge und das blinkende Abzeichen auf seiner Brust sehen.
Ein Polizist. Endlich.
Der Taschenlampenstrahl erfasste sie, und sie hob eine Hand, um sich vor dem grellen Licht zu schützen.
»Ach du Schande! Ma’am, ist das Blut?«
Ja, sie hatte Blut an den Händen, wusste jedoch nicht, ob es ihres oder seines war. Wahrscheinlich von beiden. »Ich bin überfallen worden.« Dafür dass ihr Hals so ausgetrocknet war, klang ihre Stimme überraschend normal. Oder vielmehr: Sie hörte sich viel zu ruhig an. Vielleicht stand sie unter Schock, denn sie fühlte sich nicht ruhig. Ihr Innerstes brodelte, ihr Herz raste, und – das war wirklich ausgesprochen merkwürdig – ihre Zähne taten weh.
Der Polizist kam näher. »Wo sind Sie verletzt?«
Nirgends. »I-ich habe ihn umgebracht.« Sie hatte noch nie einen Polizisten belogen. Warum sollte sie jetzt damit anfangen?
Schweigen. Sie folgte dem Strahl seiner Taschenlampe nach unten zu dem Toten.
»Er hat mich gebissen …« Doch sie hatte keine Bissmale mehr. Und sicher hatte sie sich diese viel zu langen Zähne nur eingebildet. »Er war so stark, wollte mich nicht loslassen, und ich …«
Rammte ihm eine Glasscherbe in den Hals.
Ein Windhauch strich über ihre Wange und trug ihr den Blutgeruch entgegen. Blut und … ein schwaches Blumenaroma. »Es war noch jemand hier.« Dessen war sie sich sicher. Sie versuchte, sich an den anderen zu erinnern, doch er blieb ein dunkler Schatten. Ein großer, kräftiger Schatten von einem Mann.
Mit blauen Augen. Ja, seine Augen waren leuchtend blau gewesen.
»Ein zweiter Angreifer?« Der Cop kam näher. »Ma’am, heben Sie bitte beide Hände in die Höhe.«
Sie hob die Arme, und ihr Magen verkrampfte sich. Warum war sie so schrecklich hungrig?
»Das ist gut, ja, so ist es gut.«
Ein Pochen ertönte in ihren Ohren, laut und schnell. Und plötzlich konnte sie alles riechen: Blut, Blumen, Schweiß, Zigaretten, Alkohol, selbst den Weihrauch aus der Kirche. Zu viele Gerüche.
»Ich rufe über Funk Verstärkung, dann kümmern wir uns um Sie, okay?« Der Polizist stand direkt vor ihr, und Nicole wurde klar, dass das Pochen von ihm ausging. Ihre Augen wanderten über sein Gesicht und hinab zu seinem kräftigen Hals. Dort hämmerte der Puls unter seiner Haut, doppelt so schnell, wie er sollte.
Sein Puls, sein Blut, so nahe.
Ihre Hand streckte sich nach ihm aus.
»Ist das ganze Blut von ihm, Ma’am?«
Sie schüttelte den Kopf, wovon ihr prompt schwindlig wurde. »Ich glaube,
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