Engelstrompeten: Ein Hiddensee-Krimi (German Edition)
Zehnjährigen, brav gekämmt, in Bluse und Trägerrock neben ihrer Tante. »Was willst du von ihm?« In ihren rotgeweinten Augen stiegen schon wieder Tränen auf. Und Angst. Wie in einem Albtraum.
»Mit ihm reden, sonst nichts. Weißt du, wo er ist?« Zu spät war Pieplow eingefallen, dass Manfred Graber nicht zu Hause sein würde. Die Mittagsruhe war vorüber und Rasenmäherlärm wieder erlaubt. Pieplow kam nicht umhin, Marlies Graber zu fragen, wo ihr Mann zu finden war.
»Keine Ahnung.« Sie schüttelte den Kopf. Gedankenverloren, langsam. Hörte gar nicht damit auf, so als beruhigte es sie, ihr Gehirn in leichter Schwingung zu halten. Wie ein verlassenes Kind.
Ein verlassenes Kind in einem Albtraum.
»Gibt es keinen Plan, in dem du nachsehen könntest? Einen Kalender oder so was, in dem er seine Termine einträgt?«
Ohne zu antworten, sah sie Pieplow sekundenlang an.
»Schon«, sagte sie schließlich zögernd. »Aber da brauche ich nicht hineinzusehen. Er ist nicht zur Arbeit.« Ihr Blick ging hinüber zum Werkzeugschuppen. »Der Mäher ist da und alles andere auch.« Sie drehte sich wieder zu Pieplow um. »Was willst du denn wissen? Wenn es um Wanda geht, weiß ich bestimmt besser Bescheid als er. Also frag mich.« Mit einer monotonen Bewegung strich sie über den Stoff, der ganz knittrig war, wo ihre Fäuste sich hineingekrallt hatten.
»Wir möchten wissen, wo dein Mann vorletzte Nacht war.« Wahrscheinlich würde sie ohnehin diejenige sein, die Manfreds Angaben bestätigen musste. Zu Hause, im Bett, bei meiner Frau. Es sprach also, entschied Pieplow, kaum etwas dagegen, ihr diese Frage zuerst zu stellen.
»Warum?«
»Es hat Hinweise gegeben, denen nachgegangen werden muss, um auszuschließen, dass...«
Davon, dass Ermittlungen auch Entlastendes zutage fördern sollten, wollte Marlies Graber nichts hören. »Was soll das heißen – Hinweise?«, unterbrach sie ihn. »Wenn du damit meinst, dass ihn jemand angeschwärzt hat, dann sag es – und am besten auch gleich wer!« Sie ärgerte sich und das machte sie lebendig.
»Das kann ich nicht, Marlies. Selbst wenn ich wollte«, sagte Pieplow wahrheitsgemäß.
Sie nickte. »Klar. Kannst du nicht. Darfst du nicht. Ihr deckt ja lieber die, die nichts Besseres zu tun haben, als andere mit Dreck zu beschmeißen.«
»Das stimmt nicht, und das weißt du. Versuch doch, es positiv zu sehen. Ich frage euch, wo Manfred vorletzte Nacht war, ihr antwortet und damit kann die Sache vom Tisch sein.«
Marlies Graber seufzte tief und strich sich mit einer resignierten Geste über das Gesicht. »Für euch vielleicht, aber für die Leute? Wie sie mich angucken, wenn ich ins Dorf gehe. Und die Köpfe zusammenstecken, sobald ich außer Hörweite bin. Glaubst du, für die ist das erledigt, wenn du die Antworten auf deine Fragen hast?« Ihre Stimme klang müde. »Es ist ein bisschen viel im Moment. Die Sache mit Wanda. Die Arbeit, das Haus. Die Gäste. Alles eben. Und nun habt ihr auch noch Manfred auf dem Kieker... Ich mag nicht mehr, verstehst du? Mir wächst alles über den Kopf.«
Es ist noch mehr, dachte Pieplow, dem die verschandelten Kunstwerke am Klausner einfielen, auf die irgendwann auch noch die Sprache kommen musste. Wenn auch nicht unbedingt jetzt.
»Versuchs draußen am Schubboot-Anleger«, sagte Marlies Graber. »Da ist Manfred manchmal, wenn er für sich sein will. Vielleicht erwischst du ihn dort.« Sie hob den Wäschekorb auf und ging zum Haus.
Zum zweiten Mal an diesem Tag bog Pieplow vor Grieben nach rechts ab. Ließ den Streifenwagen über den Boddenweg holpern und versuchte sich vorzustellen, wie es vor dreißig Jahren hier zugegangen war, als noch über diese Sandpiste rollte, was auf die Insel transportiert wurde. Baumaterial und Bier. Briefe, Pakete. Die Grenztruppen und ihre Versorgung. Alles auf Lastwagen, die damals das Schubboot ans Schwedenhagener Ufer brachte. Und dann wurde losgeheizt, was Motoren und Achsen hergaben. Hoch auf den Dornbusch zur Stellung der Beobachtungskompanie. Durch Kloster und Vitte hinunter nach Neuendorf. So oft und so lange, wie die natürlichen Feinde des Autoverkehrs es zuließen. Das Wetter, der Sandweg. Die Polizei.
Von der alten Betriebsamkeit war nichts geblieben außer ein paar Metern rostender Stahl, vier abgeschalteten Bogenlampen und ein paar Metern Betonpiste, über die längst Gras wucherte.
Ein einsamer Ort, den nur noch mit Leben füllte, wer sich erinnerte. An Gestank und Lärm und das Dröhnen
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