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Enigma

Enigma

Titel: Enigma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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bisher erst einmal eine Horchstelle besucht, und zwar vor etlichen Jahren, als die Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckte. Das war ein Schuppen auf den Klippen bei Scarborough voller vor Kälte zitternder Wrens gewesen. Das hier war etwas völlig anderes. Sie gingen durch eine Pforte in der Mauer, und da sahen sie es - Dutzende von Antennenmasten, auf mehreren Morgen Land in einem seltsamen Muster angeordnet, wie die Steinkreise der Druiden. Die metallenen Masten waren durch Tausende von Metern Kabel miteinander verbunden. Ein Teil der straffen Stahlstäbe summte, ein anderer kreischte.
    »Rhombus-  und Wellenantennen!« schrie der Major, um den Lärm zu übertönen. »Dipolantennen und Quadrantantennen… Sehen Sie…« Er versuchte, auf etwas zu zeigen, doch sein Schirm schlug plötzlich um. »Wir sind hier ungefähr hundert Meter hoch, deshalb dieser fürchterliche Wind. Die Anlage hat eine doppelte Ausrichtung, können Sie das sehen? Der eine Teil ist nach Süden gerichtet. Damit bekommen wir Frankreich, den Mittelmeerraum, Libyen. Der andere ist nach Osten auf Deutschland und die Ostfront gerichtet. Die Funksprüche gelangen über Koaxialkabel in die Auffangbaracken.« Er breitete die Arme aus und schrie: »Großartig, nicht wahr? Wir können über eine Entfernung von fast tausend Meilen alles auffangen.« Er lachte und schwenkte die Hände, als dirigierte er einen Chor.
    Der Wind peitschte Schneeregen in ihre Gesichter, und Jericho legte die Hände an die Ohren. Es hörte sich an, als mischten sie sich in die Natur ein, zapften eine gewaltige Elementarkraft an, in die sie eigentlich nicht eingreifen dürften, wie Frankenstein, der Blitze in sein Laboratorium herableitete. Eine weitere Sturmbö trieb sie rückwärts, und Hester klammerte sich haltsuchend an seinen Arm.
    »Lassen Sie uns von hier verschwinden!« schrie Heaviside. Er bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Sobald sie auf der anderen Seite der Mauer angekommen waren, hatten sie etwas Schutz vor dem Wind. Eine Asphaltstraße führte um eine Gebäudeansammlung herum, die aus der Entfernung aussah wie ein Dorf auf dem Gelände des Herrenhauses. Kleine Häuser, Akkerschuppen, ein Gewächshaus, sogar ein Kricket-Pavillon mit einem Uhrenturm. Alles Attrappen, erklärte Heaviside, um die deutsche Luftaufklärung zu täuschen. Das war der Ort, wo die Auffangarbeit geleistet wurde. Gab es etwas Spezielles, was sie von ihm wissen wollten?
    »Wie wäre es mit der Ostfront?« sagte Hester.
    »Ostfront?« sagte Heaviside. »Gern.«
    Er eilte ihnen durch die Pfützen voraus, wobei er nach wie vor versuchte, seinen übergeschnappten Schirm wieder brauchbar zu machen. Der Regen wurde heftiger, und sie fingen an zu rennen, bis sie die Baracke erreicht hatten. Die Tür schlug mit einem lauten Knall hinter ihnen zu.
    »Wir verlassen uns auf das weibliche Element, wie Sie sehen«, sagte Heaviside, wobei er seine Brille abnahm und sie mit der Kante seiner Uniformjacke abtrocknete.
    »Armeehelferinnen und Frauen aus der Zivilbevölkerung.« Er setzte seine Brille wieder auf und sah sich in der Baracke um. »Guten Tag«, sagte er zu einer massigen Frau mit Offiziersstreifen. »Die Aufseherin«, erklärte er, dann setzte er flüsternd hinzu: »Ein ziemlicher Drachen.« Jericho zählte vierundzwanzig Funkempfänger, zu beiden Seiten eines langen Ganges paarweise angeordnet, und vor jedem eine Frau mit Kopfhörern. Im Raum war es sehr still bis auf das Summen der Geräte und das gelegentliche Rascheln von Formularen.
    »Wir haben drei Typen von Geräten«, fuhr Heaviside leise fort. »HROs, Hallicrafter 28 Skyriders und amerikanische AR 88s. Jede Frau hat ihre eigene Frequenz zu überwachen, nur wenn es zu hektisch wird, muß sie zwei übernehmen.«
    »Wie viele Leute arbeiten hier?« fragte Hester.
    »An die zweitausend.«
    »Und Sie fangen alles auf?«
    »Absolut alles. Es sei denn, Sie sagen uns, wir sollen es lassen.«
    »Was wir nie tun.«
    »Richtig.« Auf Heavisides kahlem Kopf glänzte das Regenwasser. Er beugte sich vor und schüttelte sich wie ein Hund. »Bis auf das eine Mal vor ein paar Wochen natürlich.«
    Woran sich Jericho später am deutlichsten erinnerte, war, wie gelassen sie reagierte. Sie zuckte nicht mit der Wimper. Statt dessen wechselte sie sogar das Thema und fragte Heaviside, wie schnell die Frauen sein mußten (»wir bestehen auf einer Geschwindigkeit von neunzig Morsezeichen pro Minute, das ist das absolute Minimum«), und dann machten sich alle

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