Enigma
drei auf den Weg durch den Mittelgang.
»Diese Geräte sind auf die Ostfront ausgerichtet«, sagte Heaviside, als sie ungefähr die halbe Strecke zurückgelegt hatten. Er blieb stehen und zeigte auf das Bild eines Geiers, das bei mehreren Empfängern an der Seite klebte. »Vulture ist natürlich nicht der einzige deutsche Heerescode in Rußland. Da sind außerdem noch Kite und Kestrel, Smelt für die Ukra ine…«
»Ist im Augenblick viel los?« Jericho hatte das Gefühl, daß er auch einmal etwas sagen mußte.
»Sehr viel sogar, seit Stalingrad. Rückzüge und Gegenoffensiven an der gesamten Front. Vorstöße und Ausweichmanöver. Eines muß man den Roten lassen - sie wissen, wie man kämpft.«
Hester sagte beiläufig: »War es nicht eine Vulture-Station, die Sie nicht abhören sollten?«
»Das stimmt.«
»Und das war um den 4. März herum?«
»Stimmt auch. Gegen Mitternacht. Ich erinnere mich daran, weil wir gerade vier lange Meldungen übermittelt hatten und wie vor den Kopf gestoßen waren, als Ihr Boß Mermagen in einer fürchterlichen Panik anrief und sagte: ›Nichts mehr davon, vielen Dank, nicht heute, nicht morgen, überhaupt nie mehr.‹«
»Irgendeine Begründung.«
»Keine Begründung. Einfach aufhören. Dachte, er bekäme gleich einen Herzanfall. Verrückteste Sache, die mir je begegnet ist.«
»Vielleicht«, meinte Jericho, »wußten sie, wie beschäftigt Sie waren, und wollten auf weniger wichtige Dinge verzichten?«
»Quatsch«, sagte Heaviside. »Entschuldigen Sie, aber das ist wirklich die Höhe…« Sein professioneller Stolz war verletzt.
»Sie können Ihrem Mister Mermagen von mir sagen, daß es nichts gibt, womit wir nicht fertig werden, stimmt´s, Kay?« Er tätschelte einer auffallend hübschen jungen Frau die Schulter, die daraufhin ihre Kopfhörer abnahm und ihren Stuhl zurückschob. »Nein, stehen Sie nicht auf, ich wollte Sie nicht stören. Wir haben uns gerade über unsere Rätselstation unterhalten.« Er verdrehte die Augen. »Die, die wir nicht abhören sollen.«
»Abhören?« Jericho warf Hester einen Blick zu. »Sie meinen, sie sendet nach wie vor?«
»Kay?«
»Ja, Sir.« Sie hatte einen recht melodiösen Waliser Akzent.
»Im Augenblick nicht so oft, Sir, aber letzte Woche war sehr viel los.« Sie zögerte. »Ich versuche irgendwie, nicht zuzuhören, nicht absichtlich, Sir, aber er hat nun einmal die schönste Handschrift. Ganz alte Schule. Nicht so wie die Bengel«, sie spie das Wort aus, »die sie heute einsetzen. Die sind fast so schlimm wie die Italiener.«
»Der Morsestil eines Mannes«, sagte Heaviside pompös, »ist für das geschulte Ohr so unverwechselbar wie seine Unterschrift.«
»Und wie ist sein Stil?«
»Sehr schnell, aber sehr deutlich«, sagte Kay. »Dahinfließend, würde ich sagen. Eine Handschrift wie ein Konzertpianist.«
»Man könnte fast glauben, daß sie in diesen Kerl verliebt ist, meinen Sie nicht, Mister Jericho?« Heaviside lachte und tätschelte abermals ihre Schulter. »Schon gut, Kay. Gute Arbeit. Machen Sie weiter.«
Sie setzten ihren Weg fort. »Eine meiner besten«, gestand er. »Kann ziemlich hart sein, acht Stunden lang zuhören und unverständliches Zeug notieren. Vor allem nachts und im Winter. Lausig kalt hier. Wir müssen ihnen Decken geben. Ah, sehen Sie - hier kommt gerade etwas.«
Sie standen in gebührendem Abstand hinter einer Frau, die gerade hektisch eine Nachricht aufnahm. Mit der linken Hand regulierte sie die Scheibe am Empfänger, mit der rechten legte sie Formulare und Kohlepapier zusammen. Die Geschwindigkeit, mit der sie dann die Nachricht aufnahm, war verblüffend.
» GLPES «, las Jericho über ihre Schulter, » KEMPG NXWPD …«
»Zwei Formulare«, sagte Heaviside. »Das Logblatt, auf dem sie das Flüstern festhält, die Frequenz, den Q-Code und so weiter. Und das rote Formular für die eigentliche Nachricht.«
»Wie geht es dann weiter?« flüsterte Hester.
»Von jedem Formular gibt es zwei Kopien. Das Original geht in die Fernschreiberbaracke zur sofortigen Übermittlung an Ihre Leute. Das ist die Baracke, an der wir vorbeigekommen sind, die so aussieht wie ein Kricket-Pavillon. Die anderen Kopien behalten wir hier, für den Fall, daß etwas ve rstümmelt wurde oder verlorengegangen ist.«
»Wie lange bewahren Sie sie auf?«
»Zwei Monate.«
»Können wir sie sehen?«
Heaviside kratzte sich am Kopf. »Wenn Sie möchten. Da gibt es aber nicht viel zu sehen.«
Er führte sie zum anderen Ende der
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